12. Kapitel: Wahrheiten

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Mr Holmes ließ sich Zeit mit seiner Antwort und zupfte währenddessen einen Fussel von seinem Anzug. Seinen Mantel hatte auch er mittlerweile abgelegt und über die Sessellehne gehängt, sodass ich mir wieder einmal Gedanken darüber machen konnte, wie dieser Mann selbst nachts um vier so perfekt gekleidet sein konnte.Ich hingegen gab mir große Mühe, in meinem Outfit, das ich mir für diese Nacht herausgesucht hatte, nicht so einfach und billig zu wirken. Dabei zupfte ich die ganze Zeit an meinem Ausschnitt herum, der mir in einer solchen Runde nun doch etwas tief vorkam.

Es missfiel mir, dass ich mich jedes Mal so von seinem Äußeren beeindrucken ließ. Sicherlich war Mr Holmes nicht der bestaussehendste Mann, den ich je gesehen hatte, aber sein Kleidungsstil, der wohl vor allem seinem Job geschuldet war, machte doch gewissen Eindruck auf mich.
Ich war sicherlich nicht die einzige Frau, die Männer in Anzügen grundsätzlich unglaublich anziehend fand.

„Man weiß schon lange von Mr Gardeners kleinen Gesetzesbrüchen, Ms Ferrars", antwortete er dann endlich und seine Antwort stimmte mich in jeglicher Hinsicht misstrauisch und wütend.Zuerst einmal ging mir der Ton, in dem er mit mir sprach, unglaublich gegen den Strich. Ich war schließlich kein kleines Kind, dem man alles sorgfältig erklären musste.Außerdem bedeutete seine Antwort, dass sie die ganze Zeit über mehr gewusst hatten, als sie mir gesagt hatten. Eigentlich konnte ich das nicht kritisieren, schließlich hatte auch ich vieles für mich behalten. Jedoch warf dies einmal mehr die große Frage auf, die ich mir immer wieder gestellt hatte: „Wieso dann ausgerechnet jetzt?"Meine Frage klang genervter und feindseliger als ich beabsichtigt hatte, erzielte aber dennoch eine wünschenswerte Wirkung: Beide Brüder warfen mir beinahe vorsichtige Blicke zu, womit ich endlich meinen Mut wiederfand und mich erhob. Das Stehen gab mir eine gewisse Selbstsicherheit.

Bevor ich jedoch mit meinen Anklagen und Fragen loslegen konnte, erschien John in der Küchentür und unterbrach mich. Das bekleckerte Handtuch auf seiner Schulter ließ vermuten, dass er noch immer mit Rosie beschäftigt war. Ich hatte kaum mitbekommen, wie sie aufgehört hatte zu schreien.

„Julie, ich wollte dir nur sagen, dass ich gegen die Sache war. Ich habe damit nichts zu tun", sagte er schnell, bevor er mit einem entschuldigenden Lächeln auch schon wieder verschwand.Ich sah ihm kurz verblüfft nach, bevor mein misstrauischer Blick auf die zwei Brüder fiel.

Mit in die Taille gestemmten Händen kam ich langsam auf sie zu. Sie mieden meinen Blick offenbar ganz bewusst und ich konnte genau sehen, dass vor allem Mr Holmes recht nervös wurde. Er richtete kurz seine Krawatte, obwohl es da gar nichts zu richten gab, und faltete dann mit einem Räuspern die Hände im Schoß.
Sherlock hingegen blickte zu seinem Bruder und tippte mit einem Finger auf der Sessellehne herum.

Aufgrund von Sherlocks Blick wandte ich mich an den Älteren der beiden.„Mr Holmes?", fragte ich mit falscher Freundlichkeit, als ich vor den beiden Sesseln stehenblieb und auf den Mann hinabblickte.„Ms Ferrars?", fragte er zurück und warf mir kurz ein falsches Lächeln zu. Seine Reaktion ließ mich nur gereizt schnauben, bevor ich die Arme vor der Brust verschränkte. Ich wollte endlich, dass reiner Tisch gemacht wurde.„Was möchte John mir damit sagen?", fragte ich nach und hob auffordernd die Augenbrauen, obwohl Mr Holmes mich gar nicht ansah.„Vielleicht sollten Sie sich erst einmal ausschlafen", Sherlock erhob sich zu meiner Rechten, „schließlich lassen sich solche Gespräche mit Alkohol im Blut so schlecht führen."Mein Kopf flog herum und ich war mir sicher, dass ich in meinem Leben niemanden so angesehen hatte. Sherlock grinste mir dabei entgegen und wollte damit recht offensichtlich seine Unsicherheit überspielen. Kurz machte es mich sogar stolz, dass ich die zwei Genies scheinbar so sehr einschüchtern konnte.„Wenn Sie wirklich so dringend Ihre Leber zerstören wollen, gibt es deutlich effektivere Methoden", fügte er dann hinzu, worauf ein nervöses Lachen folgte. Damit war meine Geduld nun völlig am Ende und ich wandte mich ganz dem jüngeren Bruder zu.

Lügenleben || Mycroft HolmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt