9. Kapitel: Zwischen Pubs und Traumwelten

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Als ich am Morgen das Haus verließ, war ich todmüde, spürte allerdings, dass die Wirkungen des Anästhetikums nun vollends verschwunden waren. Ich wurde nicht mehr von diesen hämmernden, dröhnenden Kopfschmerzen geplagt und fühlte mich trotz der Müdigkeit eigentlich recht gut.


Mr Holmes schien es nicht für nötig gehalten zu haben, sich von mir zu verabschieden. Noch vor Sonnenaufgang hatte ich seinen Schritten im Haus gelauscht und darauf gewartet, dass er zur Arbeit aufbrach. Danach war ich schnell aufgestanden und hatte mich im Badezimmer einer Katzenwäsche unterzogen, um dann doch wieder in meine getragene Kleidung zu steigen.
Den Pyjama ließ ich feinsäuberlich zusammengelegt auf einem Stapel mit der von mir genutzten Decke auf dem Sofa liegen. Ich wollte nicht, dass der Herr des Hauses auch noch einen Grund gehabt hätte, um sich über mich als Gast zu beschweren.
Von Helen, die an diesem Tag offenbar nicht bei Mr Holmes arbeitete, hatte ich mich bedauerlicherweise nicht verabschieden können.
Ein letzter kontrollierender Blick ins Wohnzimmer bestätigte mir dann, dass kaum noch etwas an meine Anwesenheit erinnerte, sodass ich mich noch vor acht Uhr auf den Nachhauseweg machen konnte.
Der Spaziergang, den ich von dem großen Haus bis zur nächsten Hauptstraße zurücklegte, tat mir sehr gut und ich war überrascht, wie beschwingt ich die Strecke zurücklegte. Dabei war der vergangene Abend doch alles andere als positiv für mich ausgegangen und im Hinterkopf behielt ich die ganze Zeit über den Gedanken an den USB-Stick. Nach Mr Holmes' Worten führte nun wirklich kein Weg mehr daran vorbei, sich die Daten einmal anzusehen.

Der Taxifahrer musterte mich wohl aufgrund meines geräderten Aussehens zwar immer wieder durch den Rückspiegel, war aber glücklicherweise ziemlich mundfaul und gab sich mit dem Trinkgeld, das ich ihm gab, sehr zufrieden.

In meiner Wohnung war die Ordnung nach dem Einbruch noch nicht wieder hundertprozentig hergestellt, sodass ich ganz froh war, etwas Sinnvolles zu tun zu haben. Außerdem hatte ich so genug Zeit, um mir meine Worte an Mrs Doyle auszudenken.
Natürlich wollte und musste ich mich einmal bei ihr melden und tat dies gerade nach dem letzten Abend auch mit großer Freude. Sie war in der letzten Zeit schließlich die einzige Konstante in meinem Leben gewesen und ich war ihr sehr dankbar dafür, dass sie wenigstens die Illusion eines geordneten Lebens herstellte.

Mrs Doyles Tochter, Katie, nahm ab, als ich mich endlich zu dem Anruf durchgerungen hatte. Die Ungewissheit darüber, wie es Mrs Doyle tatsächlich ging und wie sie reagieren würde, hatte mich lange zögern lassen.
Als Anna mir nun aber erzählte, dass sie nicht den Eindruck hatte, als würde sich ihre Mutter anders verhalten als sonst, war ich bereits ziemlich beruhigt. Zudem schien die ältere Dame in ihrer Rolle als Großmutter von zwei Teenagern aufzugehen. Oft hatte sich Mrs Doyle bei mir über ihre „verwöhnten und faulen" Enkelkinder beschwert und normalerweise hatte sie die beiden nicht öfter als fünfmal im Jahr gesehen, obwohl die Reise nicht lang war.

„Meinst du, dass sie bald zurückkehren möchte? Für gewöhnlich hasst sie es, das Haus zu verlassen", fragte ich, nachdem ich meinen Mut zusammengekratzt hatte. Es machte mir tatsächlich ein wenig Angst, länger als ein paar Tage von Mrs Doyle getrennt zu sein. Das bedeutete nämlich jedes Mal, dass ich keine Arbeit, also nichts zu tun hatte, was für mich schrecklich war. Zu viel freie Zeit brachte nämlich nur unerwünschte Gedanken.
„Oh ja", Katie lachte kurz, „normalerweise kriegt man sie ja kaum aus dem Haus. Aber wir hatten uns eigentlich überlegt, dass sie noch eine Weile hierbleibt. Solange sie nichts dagegen hat, wird das sicherlich auch ganz gut für sie sein."
Ich musste nach diesen Worten einmal schlucken und tief durchatmen. Einen kleinen Stich versetzte mir diese Antwort tatsächlich. Natürlich war diese Entscheidung keine Entscheidung gegen mich, allerdings fühlte es sich trotzdem ein wenig so an.
„Bestimmt wird das gut für sie sein", antwortete ich bemüht fröhlich, wobei es in meinen Ohren völlig falsch und gestellt klang.

Das darauffolgende Telefonat mit Mrs Doyle fiel überraschend kurz aus. Ihre Erzählungen waren sehr knapp und sie fragte auch nur nach meinem Wohlergehen. Ob sie den Einbruch verdrängen wollte oder tatsächlich nicht mehr wirklich darüber nachdachte, konnte ich nicht sagen. Ich wusste nur, dass mich eine unheimliche Leere einnahm, nachdem ich aufgelegt hatte.

Ich wünschte Mrs Doyle nichts sehnlicher, als dass sie auch in ihren älteren Jahren glücklich war und Zeit mit ihrer Familie verbringen konnte. Eigenartigerweise vermisste ich aber die Behaglichkeit und Einfachheit des Alltags mit ihr. Es war oft schwierig mit ihr, aber dennoch fiel mir nun auf, wie simpel und geregelt meine Arbeit immer abgelaufen war.
Ohne Mrs Doyles' verwüstetes Haus wäre ich noch vor Mittag in ein dunkles Loch gefallen, konnte es nun aber zum Glück bis zum frühen Abend hinauszögern.

Das Aufräumen und Saubermachen dauerten jedoch leider auch nur einige Stunden, sodass ich Mrs Doyles Haus nach mehreren Kontrollgängen wieder verließ. Zu meinem Leidwesen war nicht allzu viel verwüstet worden und schon gegen fünf Uhr kehrte ich mit ein paar Einkäufen wieder in meine Wohnung zurück, die mich mit der altbekannten Einsamkeit und Stille empfing.

Nach meinem Abendessen befiel mich dann tatsächlich das unruhige Gefühl der Untätigkeit, das mich rastlos in meiner Wohnung umherlaufen ließ, bis mein Blick meine Tasche streifte und ich ohne weiteres Nachdenken tatsächlich den USB-Stick hervorholte.
Mr Holmes' Worte spornten mich eigenartigerweise an; ich wollte ihm beweisen, dass mich diese Daten nicht aus dem Konzept bringen würden. Allerdings hatte ich da wohl noch mit ganz anderen Dokumenten gerechnet.

Mein Zeigefinger über dem Touchpad meines Laptops zitterte viel zu stark, als ich die nötigen Klicks hinter mich brachte, um dann einige Sekunden lang bewegungslos auf den Bildschirm zu starren.
Mit einem kalten Schauder sickerte das, was ich dort sah, langsam in mein Bewusstsein durch, was dafür sorgte, dass ich mich ruckartig von dem Gerät löste.

Nur langsam konnte ich meinen Blick nach meiner plötzlichen Reaktion wieder auf den Bildschirm richten, wobei es einige Zeit dauerte, bis ich den Namen des einzigen Ordners, der auf dem Stick gespeichert war, lesen konnte. Der einzige Ordner trug tatsächlich meinen Namen.
Ich ballte meine Hände kraftvoll zu Fäusten, sodass meine Knöchel weiß hervortraten, während ich noch damit haderte, ob ich den Ordner wirklich öffnen sollte. Mein Atem beschleunigte sich dabei ein wenig, was mich kurz dazu zwang, die brennenden Augen zu schließen.
Entschlossen öffnete ich sie einen Augenblick später aber wieder und klickte auf den Ordner, um im nächsten Moment etwa ein Dutzend Dokumente aufgelistet zu sehen. Diese trugen keine Namen, die mir irgendetwas über ihren Inhalt verrieten, sondern waren lediglich nummeriert.
Tatsächlich kostete es mich da nur noch wenig Überwindung, die Dokumente nach und nach zu öffnen. Sie waren für mich schließlich keine Geheimnisse, sondern enthielten lediglich Informationen über mich und mein Leben: Das erste Dokument war meine Geburtsurkunde, während das letzte der Lebenslauf war, den Mr Doyle einmal für mich erstellt hatte. Die Lücken, die ich in ihm gelassen hätte, waren hier mit irgendwelchen sozialen Jobs oder Auslandsaufenthalten gefüllt, für die Mr Doyle zusätzlich Zertifikate hatte anfertigen lassen.
Er war gründlich gewesen, weshalb es mir immer wieder leidtat, dass ich seine Hilfe nicht richtig hatte nutzen können, schließlich arbeitete ich bei Mrs Doyle nun in einem Job, den ich theoretisch auch gut ohne Schulabschluss und abgeschlossenem Studium machen könnte. Aber zu etwas anderem hatte ich mich einfach nicht mehr durchringen können.

Nachdem ich das letzte Dokument geschlossen hatte, starrte ich noch eine Weile auf den Bildschirm, während meine Hand bereits den USB-Stick berührte, um ihn jederzeit herausziehen zu können.
Ich wusste nun gar nicht mehr wirklich, was ich erwartet hatte. Aber hatte Mrs Doyle mir nicht erzählt, dass ihr Mann mit den Informationen auf dem Stick mehrere Menschen geschützt hatte? Hatte sie mir nicht erzählt, dass ihnen ähnliche Dinge wie mir widerfahren waren?
Es erschloss sich mir nicht, wieso sie mich angelogen hatte. Zudem ergab es für mich nun einfach keinen Sinn mehr, dass dieser Stick so viel Aufmerksamkeit bekam und sich sogar ein Mycroft Holmes für ihn interessierte.
Natürlich würden die Daten dabei helfen, einen kleinen Betrug und Dokumentenfälschung aufzudecken. Aber darum konnte es der britischen Regierung niemals gehen, wenn die ganze Sache tatsächlich solcher Geheimhaltung unterlag.

Es kehrte auch die Frage danach zurück, wieso Mr Holmes mir den Stick nicht einfach weggenommen hatte, was mich immer wieder zu neuen Vermutungen gelangen ließ. Hatte er nicht selbst gesagt, dass er den Stick schon längst hätte, wenn er wollte? Wieso hatte er ihn also nicht gewollt?
Die einzige logische Erklärung war hier für mich, dass er die ganze Zeit über gewusst hatte, welche Daten auf dem Stick gespeichert waren. Allerdings bedeutet dies auch, dass er wusste, wie unwichtig diese Daten waren. Es bedeutete, dass er ihn mir bewusst überlassen hatte und das Risiko eingegangen war, dass Mrs Doyle oder mir etwas zustieß.

Wütend riss ich den Stick aus meinem Laptop, während ich bereits aufstand, um in die Küche zu eilen. Im Kühlschrank befand sich noch eine angebrochene Flasche Wein, nach der ich nun nicht einmal mit schlechtem Gewissen griff.
Wie Magma in einem eruptierenden Vulkan schien dieses drückende, drängende Gefühl der Wut in mir aufzusteigen, während ich die Flasche an meine Lippen setzte und die ersten Schlucke nahm.

Ich lief noch eine Weile energisch in meiner Wohnung auf und ab, während sich die Flasche immer weiter leerte. Dabei wusste ich gar nicht recht, welches Gefühl in mir am prominentesten war. War es die Verzweiflung, die Wut, die Hilflosigkeit?
Ich war auf mich selbst wütend, weil mich diese bescheuerten Dokumente so sehr aufrüttelten, obwohl ich mir selbst und Mr Holmes doch das genaue Gegenteil hatte beweisen wollen.
Gleichzeitig war ich mir immer sicherer, dass zumindest Mr Holmes gewusst hatte, was tatsächlich auf dem Stick war. Und ich hatte ihn einfach nicht durchschaut! Dabei war es so offensichtlich gewesen, dass er an dem Stick selbst kein Interesse gehabt hatte. Hätte er dann aber eine Hausdurchsuchung angeordnet?
Es war zum Haareraufen! Mrs Doyle war weg, ich hatte keinen Anhaltspunkt mehr bezüglich des gesamten Falls um den USB-Stick und vor allem fühlte ich mich seit langem wieder einsam und hilflos. Dabei war ich doch sooft froh darüber gewesen, eine unabhängige Frau in ihren Dreißigern zu sein, die es geschafft hatte, in keine halbwegs glückliche Ehe einzutreten, die in Form von Kindern das Ende der Karriere bedeutete. Andererseits, was für eine Karriere verfolgte ich schon?

Der Griff zum Telefon fiel mir überraschend leicht. Vielleicht lag es einfach nur daran, dass ich genau wusste, dass mir der Wein am späteren Abend nicht mehr helfen würde. Was sollte ich auch allein in meiner Wohnung herumsitzen und darauf warten, dass mich irgendwann die Müdigkeit in den Schlaf zwang, obwohl mich die Ereignisse der letzten Tage so sehr beschäftigten.
Und nicht nur das: Das viele, was Geschehen war, machte mir eine solche Angst, wie ich sie noch nie empfunden hatte.


Lügenleben || Mycroft HolmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt