15. Kapitel: Nachricht aus dem Jenseits

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„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie Katie hinter mir her war", seufzte Mrs Doyle, als wir gemeinsam im Wohnzimmer saßen und unseren Tee tranken.
Gestern Mittag hatte ihre Tochter sie wieder nach Hause gebracht und die mitgebrachten Enkelkinder hatten für ordentlich Aufruhr und Unordnung im Haus gesorgt, sodass ich erst am darauffolgenden Vormittag mit Aufräumen fertiggeworden war.
Nun genossen wir offenbar beide die Stille des Hauses und die vertraute Zweisamkeit.

„Sie hatte doch jeden Grund dazu", entgegnete ich schmunzelnd und warf Mrs Doyle einen kurzen Blick zu. Sie schüttelte jedoch wieder nur den Kopf.
„Ich bin nun wirklich noch nicht so alt, dass man mich vierundzwanzig Stunden am Tag betreuen muss", widersprach sie, was mich stumm grinsen ließ.
Mit neunundsiebzig Jahren musste Mrs Doyle selbst wissen, dass die meisten in ihrem Alter nicht mehr so fit waren wie sie, wenn man dieses Alter denn überhaupt erreichte. Dennoch würde sie es wohl nie aushalten, würde man ihr sagen, dass sie zu alt für irgendetwas war.

„Julie", begann Mrs Doyle plötzlich zögerlich und deutlich ernster als zuvor. Sie drehte sich ein Stück weiter zu mir, um mich direkt ansehen zu können.
„Was ist mittlerweile eigentlich mit den Dokumenten passiert?", fragte sie mich dann und es schwang tatsächlich ein wenig Unsicherheit in ihrer Stimme mit.
„Du hast dich doch darum gekümmert?", fügte sie etwas strenger hinzu, woraufhin ich kurz nickte.
„Sie Sache ist noch nicht ganz geklärt, aber ich kann Ihnen versichern, dass Sie nicht länger in Gefahr sind", reimte ich mir beruhigende Worte zusammen und hatte gleich nach dem Sprechen ein schlechtes Gewissen.
Ich konnte Mrs Doyle nichts versprechen, was mit einer Sache zu tun hatte, von der nicht einmal der beste Detektiv Londons wusste, was es mit ihr auf sich hatte.
Dennoch fühlten sich die Worte richtig an, als ich ihren erleichterten Gesichtsausdruck sah und spürte, dass es ihr insgeheim doch ein wenig Angst bereitet hatte, in ihr Haus zurückzukehren.
„Ich fürchte nur, dass es nicht möglich sein wird, Ihnen den USB-Stick wiederzugeben", setzte ich dann hinterher.
Mrs Doyle hob ruckartig den Kopf und sah mich misstrauisch an.
„Hast du denen etwa alles verraten?", fragte sie entrüstet, woraufhin ich tatsächlich mein Schmunzeln verstecken musste. Wenn sie wüsste, was ich in der Zeit ihrer Abwesenheit alles erfahren hatte, würde sie sich keine Sorgen mehr darum machen, dass ihr Mann schlecht dastünde oder sie selbst wohlmöglich für etwas belangt werden konnte.
Mir erschienen die Sorgen, die wir beide uns zu Anfang gemacht hatten, beinahe lächerlich, schließlich ging es offenbar um eine deutlich größere Sache.
„Haben Sie jemals genau gesehen, was genau für Dokumente auf dem Stick gespeichert sind?", stellte ich die Gegenfrage.
„Richard sagte mir nur, dass sie ebenjene Personen betreffen. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, das zu hinterfragen", antwortete sie ein wenig pikiert.
„Mr Doyle hat niemals gelogen", begann ich und Mrs Doyle sah erleichtert aus, „allerdings scheint er die Daten mit dem Tod der zu schützenden Menschen gelöscht zu haben."
Mrs Doyle brauchte einen Moment, bis sich Erkenntnis in ihrem Gesicht abzeichnete und sie mich auffordernd ansah.
„Es befinden sich nur die Daten zu mir auf dem Stick", bestätigte ich ihre Vermutung, was Mrs Doyle ernst nicken ließ.

Es wunderte mich kaum, dass Mrs Doyle nie auf die Idee gekommen war, sich die Dokumente anzusehen. In ihrem Haus befand sich schließlich nicht einmal ein Computer.
Mr Doyle hatte seine Arbeit so gut wie nie mit nach Hause gebracht, weshalb ich mir außerdem vorstellen konnte, dass seine Frau noch nie in ihrem Leben einen Computer bedient hatte.

„Ist es nicht höchst eigenartig, dass die Leute dann hinter diesen Dokumenten her sind", sprach Mrs Doyle mit gerunzelter Stirn vor sich hin und starrte nachdenklich auf den Boden.
Ich runzelte über ihre Worte die Stirn und sah sie fragend an, als sie den Blick abrupt wieder hob.
„Wir wissen nicht, wer genau was über den Stick weiß. Sie sollten sich also nicht mit irgendwelchen Vermutungen beunruhigen. Es wird sich schon gekümmert", versicherte ich Mrs Doyle mit einem gutmütigen Lächeln und bemühte mich um einen möglichst unbeschwerten Gesichtsausdruck, während ich ihre Hand tätschelte.
Plötzlich stand sie allerdings vom Sofa auf und nestelte die Schlüssel, die jederzeit um ihren Hals hingen, aus ihrer Bluse heraus. Meine Worte scheinbar ignorierend öffnete sie wie damals, als sie mir den Brief vom MI6 gezeigt hatte, mehrere Schranktüren und Schubladen.

Ich beobachtete sie ein wenig beunruhigt und machte mir tatsächlich Sorgen darüber, dass sie der Einbruch doch nicht wieder losließ und sie deshalb so rätselhaft reagierte. Mit neunundsiebzig Jahren war so eine Sache ja nun auch nicht ganz auf die leichte Schulter zu nehmen.

„Aha", stieß Mrs Doyle plötzlich triumphierend aus und zog einen schlichten Briefumschlag aus einer der Schubladen.
„Der hier hat mich zeitgleich mit den ersten Nachrichten vom Secret Intelligence Service erreicht. Ich hielt ihn damals für irgendeinen doofen Scherz oder eine Art Werbung", erklärte sie, bevor sie mir den Umschlag reichte und sich wieder neben mir niederließ.
Der Umschlag war per Hand lediglich mit dem Namen Doyle beschriftet und nicht frankiert worden, also hatte ihn jemand persönlich in den Briefkasten geworfen.
Mit gerunzelter Stirn zog ich das Papier aus dem Umschlag und las die wenigen Worte:

Lügenleben || Mycroft HolmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt