Kapitel 6

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Jen hielt Cassandra mit einem Ruck am Arm fest, als diese am Missionstisch vorbeirannte, ihre Jacke in den Händen. „Wo willst du hin?"
Cassandra fuhr sich durch die Haare. „Raus. Einfach raus."
Jen beäugte sie nachdenklich. „Geht es dir gut?"
„Keine Ahnung. Können Sie mich einfach loslassen, bitte?"
Jen ließ sie los. Cassandra drehte sich um und rannte aus dem Zentrum. Jen sah ihr nachdenklich nach. „Ich ahne nichts Gutes.", murmelte sie und sah zu Claas, der etwas unschlüssig auf einem der Stühle saß und zwischen Jen und der Tür, die sich in diesem Moment mit einem lauten Knall schloss, hin und her schaute.
Jen deutete in die Richtung, in die Cassandra verschwunden war. „Hast du eine Ahnung was da los ist?"
„Ich habe eine Vermutung.", erwiderte Claas leise.
Jen kam auf ihn zu und drückte ihm den Zettel in die Hand, auf dem der Name der Gmbh stand. „Such danach. Finde einfach alles raus, was da steht. Egal ob es der Standort oder die Lieblingspizzeria ist.", meinte sie, drehte sich um und verließ mit schnellen Schritten den Missionsraum. Claas starrte etwas unbeholfen auf den Zettel in seinen Händen, widmete sich dann aber dem Monitor und tippe den Namen ein.

Jen stieß die Tür des Zentrums auf und schaute sich um. Von Cassandra war weit und breit nichts zu sehen, was nicht zuletzt daran lag, dass sich trotz des kühlen Tages viele Touristen vor dem Tower drängten. Jen drehte sich einmal im Kreis. „Okay, wenn ich Cassandra wäre, wo würde ich dann hinlaufen, wenn mir mein Freund so richtig auf die Nerven geht?", murmelte sie vor sich hin.
Nachdenklich bewegte sie sich vorwärts und schaute sich dabei immer wieder um. Cassandra konnte sich doch nicht in Luft auflösen. Sehr weit durfte sie eigentlich nicht gekommen sein. Einer Eingebung folgend schaute sie zu Boden, der mit einer dünnen Schneeschicht überzogen war. Sie entdeckte Fußspuren, die von dem Eingang ins Zentrum bis zum Ufer der Themse führten.
Nach etwa fünft Minuten endeten die Fußspuren vor der Tower Bridge. Jen schlang fröstelnd die Arme um sich. Sie hätte sich eine Jacke mitnehmen sollen. Die Dezemberluft war zwar frisch, doch sie war auch eisig kalt.
Sie blieb stehen und verhielt sich ganz still. Tatsächlich vernahm sie das leise Geräusch, als würde jemand etwas in den Fluss werfen.
Sie trat etwas weiter auf die Brückte zu und entdeckte Cassandra, die im Schnee saß und etwas in den Händen drehte. Jen zögerte kurz und stellte sich dann neben sie. „Willst du dich nicht wo anders hinsetzen? Du holst dir noch eine Blasenentzündung.", sagte sie besorgt.
Cassandra schüttelte langsam den Kopf und strich über die Schlüsselkette in ihren Händen. „Nein, das ist schon ganz gut so."
„Was ist los?"
„Er hat gesagt, dass er mich liebt."
Jen seufzte. „Das musste ja irgendwann mal kommen."
Cassandra schaute sie verwirrt an und wischte sich über ihre feuchten Augen. „Sie wussten es?"
„Natürlich wusste ich es. Es war nicht zu übersehen wie er dich angesehen hat."
Cassandra schaute wieder auf das Wasser. „Anscheinend hat es jeder gemerkt außer mir.", murmelte sie. Jen legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Manchmal ist es nicht gerade leicht zu merken, dass jemand mehr als nur Freundschaft für einen empfindet, obwohl es für alle anderen so offensichtlich ist."
Cassandra fuhr mit den Fingern über den kleinen Schlüssel. „Was soll ich jetzt machen?"
„Empfindest du auch mehr als Freundschaft für ihn?"
„Was?"
„Eine ganz einfache Frage. Empfindest du mehr für ihn?"
„Ich weiß es nicht."
Jen seufzte. „Ich glaube du weißt es. Ganz tief in dir drin weißt du es." Cassandra warf einen erneuten Blick auf die Kette in ihren Händen. „Ich habe Angst ihn zu verlieren.", entgegnete sie mit leicht zittriger Stimme.
„Fynn hat so lange damit gewartet es dir zu sagen, weil er sich ebenfalls davor gefürchtet hat. Ihr seid verbunden. Ihr verliert euch nicht. Was ihr habt ist etwas Besonderes."
Cassandra seufzte. „Vielleicht haben Sie ja recht..."
„Natürlich habe ich das. Das wird schon wie-"
Jen hielt inne und legte einen Finger auf die Lippen. Cassandras Körper spannte sich an. „Was ist los?", fragte sie so leise, dass sie selbst ihre Stimme kaum wahrnehmen konnte. Jen antwortete ihr nicht. Stattdessen bewegte sie sich einige Schritte das Ufer hinauf. In diesem Moment hörte Cassandra das, was Jen so beunruhigte. Dieser Schrei ließ ihr die Nackenhaare zu Berge stehen.
Jen rutschte das Ufer wieder herunter, griff nach ihrem Arm und zog Cassandra hinter sich her. Cassandra keuchte auf, als sie hinter Jen her stolperte. Die Touristen vor dem Tower schienen diesen Schrei nicht gehört zu haben. Sie unterhielten sich angeregt und lachten. Jen und Cassandra schenkten ihnen jedoch keine Beachtung.
Sie rannten weiter. Die Schreie wurden immer leiser und drangen erstickt an ihre Ohren. Jen bog um eine Ecke und entdeckte eine Gruppe von Menschen, die sich vor einer kleinen Gasse drängten. Sie schob die Menschen beiseite. Diese protestierten und straften Jen mit wütenden Blicken. Als Jen vor der Menschenmasse stand, wirbelte sie herum und machte einige hektische Handbewegungen. „Verschwinden Sie hier!", schrie sie. Die Menschen rührten sich jedoch nicht von der Stelle. „Sagen Sie uns nicht, was wir zu tun haben!", rief ein Mann mit schwarzem Schnauzer, „Hier braucht jemand unsere Hilfe. Wahrscheinlich ist es ein wildes Tier. Wir haben bereits die Polizei informiert."
Jen griff in ihre Hosentasche und zog ihren Polizei Ausweis hervor. In diesem Moment war sie heilfroh, dass sie diese nie ausräumte, auch, wenn der Ausweis ein wenig verwaschen wirkte. „Ich bin die Polizei und ich sagte Sie sollen hier verschwinden! Sofort!" Ihr lauter und scharfer Tonfall brachte die Anwesenden dazu aus der Gasse zu verschwinden. Cassandra schaute sie beeindruckt an. „Nicht schlecht."
Jen drehte sich wieder um und schaute in die dunkle Gasse, deren Ende nicht abzusehen war. „Menschen sind schlimm. Sie stehen nur im Weg. Wahrscheinlich hat uns das die Minuten gekostet, die wir gebraucht hätten, um die Person zu retten."
„Sie meinen, dass-"
„Hörst du etwa noch jemanden schreien?"
In diesem Moment ertönte ein lautes Krachen und ein dunkler Schatten stürzte sich auf sie. Jen und Cassandra machten einen Satz zur Seite. Die Gestalt sprang hoch und krallte sich an eine der Feuerleitern, die an den Wänden der Gebäude angebracht worden waren. Im nächsten Moment lief die Gestalt über die Dächer davon. Cassandra schaute schweratmend zu Jen, die nicht lange zögerte und die Leiter ebenfalls hochkletterte. „Was war das?", rief Cassandra ihr nach.
„Ich habe eine Vermutung.", erklang Jens Stimme von Oben, „Komm schon! Wir müssen uns beeilen."
Cassandra schaute die Leiter hinauf. „Na toll. Warum muss das nur immer so hoch sein?", murmelte sie und begann den Aufstieg.
Jen hatte inzwischen angefangen die Verfolgung des Schattens aufzunehmen. Zuerst hatte Cassandra Schwierigkeiten sie einzuholen, doch schließlich holte sie auf. Anscheinend hatte sich das ständige Lauftraining mit Fynn doch gelohnt. Fynn, dessen Gefühle sie nicht einmal im Ansatz bemerkt hatte. Wie hatte sie nur so blind sein können? Schnell verscheuchte sie den Gedanken. Im Moment war dieser Schatten ihr Problem. Inzwischen hatte sie Jen eingeholt und lief neben ihr her. Der Schatten sprang gerade vom Dach in eine dunkle Seitenstraße. Während Jen ohne zu zögern hinter ihm hersprang, blieb Cassandra ruckartig an der Kante stehen und schaute nach unten. „Ich suche dann mal eine Feuerleiter oder so.", murmelte sie und verschwand von der Kante.

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