Ein seltsamer Morgen

268 21 0
                                    

„Ach komm schon." Jay steht in der Eulerei und sieht nach oben zu den Balken, auf denen die verschiedenen Vögel sitzen, die meisten mit einem Kopf unter ihrem Flügel und schlafend. Der kleine Uhu, den Jay nutzen will, um einen Brief zu überbringen, sieht ihn aus schlauen, gelben Augen an und dreht dann den Kopf, um aus dem Fenster zu sehen.

Vor dem Ein- und Ausflugfenster der Eulerei herrscht heftiger Wind, der einen der letzten Schneefälle des Winters durch die Luft wirbelt. Er fängt sich in den Mauerritzen und erzeugt ein gespenstisches Heulen, dass auch in der Eulerei ganz deutlich zu hören ist. Der Uhu sieht wieder zu Jay zurück und dreht sich dann demonstrativ um, nur um den Kopf wieder unter seinen Flügel zu stecken.

„Okay, okay. Ich habe es verstanden. Bei dem Wetter wollt ihr nicht raus. Verständlich. Ich komme wieder, wenn das Wetter besser ist. Ich... sollte vielleicht aufhören mit euch zu reden, sonst werde ich wieder als verrückt abgestempelt." Jay packt den Brief wieder in die Innentasche seines Mantels.

Er öffnet die schwere Tür und sofort wird er von einem Windstoß erfasst. Schnell schlägt er den Kragen hoch, vergräbt das Gesicht bis zur Nase in seinem warmen, gelben Schal und steckt die Hände so tief wie möglich in seinen Manteltaschen. Mit schnellen Schritten eilt er über den rutschigen Weg zurück zum Schloss, denn der beißende Wind fährt durch seine Klamotten und lässt ihn frösteln.

Als er die schwere Schlosstür hinter sich fallen lässt und aus dem kalten Wind heraus ist, atmet er durch und lässt die Wärme des Schlosses auf sich wirken. Die Aufenthaltsräume sind zwar noch einmal deutlich wärmer als die Flure, aber schon dort merkt man den Unterschied ganz deutlich. Jay öffnet seinen Mantel und macht sich auf den Weg zu dem Gemeinschaftsraum, in dem er sich mit dem Brettspielclub treffen möchte.

Es ist noch früh am Morgen und ein Samstag, sodass die meisten der Schüler noch schlafen und die paar, die bereits wach sind entweder auf dem Weg zum Frühstück sind oder von dort kommen. Jay weicht den zum Teil eher schlafwandlerisch wirkenden Personen locker aus und geht eine der vielen Treppen nach oben, die sich mitten drinnen entscheidet die Richtung zu wechseln.

Jay lehnt sich ans Geländer. Die Launen des Schlosses sind und bleiben für ihn absolut unverständlich. Aber vielleicht ist das auch ganz gut so, dass Menschen nicht immer alles wissen. Er ist sich nicht sicher, was es bringt, dass das Schloss sich selbst verändern kann, aber er kann es auch nicht ändern. Nun muss er eben einen Umweg machen.

Er sieht sich einen Moment lang um, als die Treppe ihr neues Ziel erreicht und stellt fest, dass er diesen Gang nur sehr selten nutzt. Die beiden Rüstungen am Durchgang sind ihm ziemlich unbekannt, was nicht viel heißen muss, da sie sich gerne bewegen, aber er kennt auch das Bild einer Mondbeschienenen Landschaft nicht. Kopfschüttelnd macht er sich auf den Weg über mehrere Treppen, um dorthin zu kommen, wo er eigentlich hinwollte.

Als er um eine Ecke biegt, stößt er beinahe mit jemandem zusammen, kann aber im letzten Moment noch ausweichen. Die roten Haare machen es mehr als auffällig, in wen er da beinahe gestoßen ist. Und die Stimme, die sich sogleich lautstark beschwert, verdeutlicht es sofort. Jay verkneift es sich die Augen zu verdrehen oder hörbar zu seufzen.

„Ich werde mich nicht bei dir dafür entschuldigen, dass ihr hinter einer uneinsehbaren Ecken auf einem gut benutzten Schulgang herumsteht und ich nicht mit euch kollidiert bin, Ginevra. Nur ein Mensch mit fragwürdiger Intelligenz würde davon ausgehen, dass ein Gang in einer Schule mit mehreren hunderten Schülern nicht genutzt wird. Würdest du mir da nicht zustimmen?" Jay schenkt Ginevra ein gewinnendes Lächeln.

Sie stottert und läuft rot an, ehe sie ihr Gesicht an Nicks Oberkörper vergräbt. „Nick sag was! Er lässt mich wie ein Idiot wirken! Und er flirtet mit mir!"

Jay kann es sich nicht mehr verkneifen die Augen zu verdrehen. „Ginevra, ich möchte, dass du dir einmal genau überlegst, was du gerade gesagt hast. Ich weiß nicht, ob es dein scheinbar sehr langsamer Verstand verarbeitet hat, aber du bist für mich so interessant wie eine Blume. Vielleicht hübsch anzusehen, aber ansonsten kann ich mit dir nichts anfangen. Deiner Anatomie fehlt da ein ganz wichtiger Teil. Ich habe also definitiv nicht mit dir geflirtet.

Und nun, dass du wie ein Idiot wirkst. Dafür brauchst du jetzt wirklich keine Hilfe. Allein, dass du bei Nick Potter nach Hilfe für die Verteidigung deiner Ehre fragst. Nick Potter ist verlobt und seine Verlobte ist ohne jeden Zweifel besser als du. Der Stand und der Wohlstand ihrer Familie ist bei weitem höher als der deine und eure Schönheit ist vergleichbar. Ich mag dich wirklich nicht bevormunden, aber du magst doch nicht als Grund für die Auflösung einer solch vorteilhaften Verbindung gelten, oder? Allein ein einziges Gerücht könnte alles zerstören."

Jays Grinsen zeigt viele Zähne und glitzernde Augen. Er hat daran geübt und Theo hat sich zunächst ziemlich über ihn lustig gemacht, aber er ist besser geworden und vor dem Endprodukt hatte Dana sogar Angst. Daher ist Jay ziemlich selbstbewusst über die Wirkung seines Grinsens und Ginevras geweitete Augen und die zitternde Unterlippe geben ihm dabei Recht.

Aber es ist Nicks Reaktion, die ihn überrascht. Er greif Ginevra nämlich einfach um den Oberarm und zieht sie den Gang hinunter. Jay dreht sich um und sieht ihnen nach. Nick wirkt erschöpft, die Säcke unter seinen Augen dunkel und schwer, aber auch seine gesamte Körperhaltung schreit praktisch ich will ins Bett.

Ginevra redet auf Nick ein, doch der scheint nicht zu reagieren. Jay Blick wird von Nicks rechter Hand angezogen, die zum Teil im Ärmel seines Pullovers verschwindet, doch Jay kann den Verband erkennen, der darum gewickelt ist. Der ist nicht mehr weiß und Jay verzieht das Gesicht. Jill würde bei einem so dreckigen Verband einen Anfall bekommen, doch Nick scheint es nicht zu stören.

Aber er scheint Schmerzen in der Hand zu haben, denn als er die Wand mit der verbundenen Hand streift, zuckt er komplett zusammen und zieht die Hand an seinen Körper. Er sieht sich um und Jay verbirgt sich schnell hinter einer Säule. Als er wieder hervor linst, sind die beiden Löwen fast am anderen Ende des Ganges verschwunden und er wendet sich kopfschüttelnd, aber nachdenklich ab. Auf die Brettspiele wird er sich jetzt wohl nicht konzentrieren können, wenn seine Gedanken Karussell um Nick Potter und dessen seltsamen Zustand fahren.

Gerüchte im Haus der SchlangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt