» Verzweiflung

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Als ich mich von Bill verabschiedet und er mir noch einmal versichert hatte, dass ich mich unbedingt melden solle, wenn etwas nicht in Ordnung wäre, ging ich mit langsamem Schritten auf die Haustür zu, die sich in weiter Ferne vor mir erstreckte. Von Schritt zu Schritt schlug mein Herz schneller und doller, sodass ich jeden Moment das Gefühl hatte, es würde aus meiner Brust springen. Mein Bauch drehte sich einmal um die eigene Achse.
Ich war so aufgeregt, hatte so eine Angst, vor dem, was kommen würde. Ich wusste nicht, wie ich reagierte. Wie ich auf jedes einzelne Foto, jede einzelne Erinnerung von Beccy reagieren würde. Ich hatte Angst.
Während ich die Haustür aufschloss, hörte ich einen Motor angehen. Bill muss bis jetzt gewartet haben, bevor er losfuhr. Ich trat in den kahlen Flur, nahm nebenbei noch die Zeitungen aus dem Briefkasten, bevor dieser völlig überquoll, da ich ihn in den letzten Tagen total vergessen hatte, auszuleeren. 
Im zweiten Stockwerk angekommen stand ich nun vor meiner Wohnungstür. Sie sah so unberührt aus. Irgendwie hoffte ich, sie aufzuschließen und Beccy würde mir singend und tanzend in die Arme springen. Sie sollte mir sagen, dass sie schon so lange auf mich warten würde, uns schon eine tolle DVD rausgesucht hatte und mir die neusten Tratsch- und Klatschgeschichten über Tokio Hotel erzählen wollte.
Ich schüttelte meinen Kopf, versuchte somit die Gedanken, die in ihm umher kreisten, zu vertreiben. Ich durfte und sollte so etwas nicht denken. Sie war... tot, verdammt. Sie würde nie wieder zurück kommen.
Schritt für Schritt ging ich durch die Tür, schloss sie hinter mir und stand erst einmal verloren im Flur. Ich atmete tief ein und aus und ging zwei Schritte weiter. Zu meiner Rechten hing die Flurgarderobe mit einer Jacke von Beccy, zu meiner Linken war ein großer Spiegel an der Wand angebracht, an welchem Fotos von ihr im Rahmen klemmten. Sofort durchfuhr mich ein Zittern, was auch nicht wieder aufhörte. Meine Tasche fiel aus meiner Hand auf den Boden, mein Haustürschlüssel ebenso. Ich ging rücklings auf eine Kommode zu und versuchte mich an ihr abzustützen, starrte die ganze Zeit über auf die Fotos, auf welchen Beccy mir glücklich entgegen grinste. Das... nein, sie konnte nicht einfach tot sein!
Mir blieb plötzlich die Luft weg. Meine Kehle wurde zugeschnürt, und ich bekam keine Luft mehr. Ich geriet in Panik; was passierte hier mit mir? Ich hielt mich an der Kommode fest, versuchte meinen Blick von ihrem Bild zu nehmen, doch es gelang mir nicht. Die Erinnerungen, an den Tag, als wir das Foto schossen, rasten kreuz und quer durch meinen Kopf. Es war kurz bevor sie in die Klinik musste. Sie wollte unbedingt in den Zoo, was wir dann auch taten. Es war ein unglaublich schöner Tag. So, wie jeder Tag, den ich mit ihr verbrachte.
Die Tränen rannen aus meinen Augen, sammelten sich auf meinen Wangen und tropften langsam von meinem Kinn. Ich spürte, wie das salzige Nass auf meiner Haut brannte, wie es Spuren hinterließ. Ich ließ mich an der Kommode hinunter rutschen und zog meine Beine an meinen Körper, schlang meine Arme um eben diese.
"Neiin..", schrie ich zum erneuten Male heute, da ich es immer noch nicht fassen konnte. Ich konnte es nicht fassen, dass sie weg war. Dass mir dieser Engel, mein letzter, liebster Mensch, genommen wurde. Dass ich alleine, ohne sie und Mom in mein weiteres Leben gehen sollte. Dass ich mit 19 auf mich alleine gestellt war, keine Stütze mehr von Beccy hatte. Sie hatte mir immer so viel gegeben, mich immer aufgefangen, wenn ich fiel - auch wenn ihr das nie bewusst war, denn sie wusste nie, was sie mit ihrer alleinigen Anwesenheit für mich tat.
Ich wusste, dass ich gerade nicht mehr alleine konnte. Ich konnte hier nicht bleiben. Ich war gefangen in den Erinnerungen, die mich immer wieder herunter rissen. Die Erinnerungen ließen mich nicht klar denken, sie ließen mich austicken, endeten in purer Verzweiflung und Fassungslosigkeit. Mir schoss nur ein Name in meinen Kopf: Bill!
Unter Tränen und lautem Schluchzen, befreite ich mich mühsam aus meiner Position und kroch zwei Meter nach vorne, um an meine Tasche zu kommen, in welcher der Zettel mit seiner Nummer war. Als ich ihn in meiner Hand hielt, zog ich mich ein Stück an der Kommode hinauf, um nach meinem Handy zu greifen, welches auf ihr lag. 
Ich tippte nur die Worte: Komm bitte. Schlüssel liegt unter der Matte., in mein Handy und ließ mich dann wieder kraftlos auf dem Boden nieder. 
Ich konnte nicht mehr, hatte keine Kraft alleine. Ich wusste, dass ich Bill brauchte, um dies alles zu überstehen. Das wusste ich auch, bevor ich wieder hier her zurück gekommen bin und zu ihm meinte, dass ich allein sein wollte. Ich wusste, dass ich nicht allein sein wollte. Ich wollte mir nur nicht eingestehen, dass ich diese Hilfe wirklich brauchte. Es war etwas Neues für mich, dass mich jemand derart auffing, wie Bill es tat. Niemals hatte es jemand getan. Ob es damals im Heim war, als wir von unserem Vater loskamen, oder ob es dann im Krankenhaus war, seitdem Beccy dort behandelt wurde. Im Heim hatte ich den Psychologen, aber es war klar, dass er nur seine Arbeit machte und mir aus diesen Familienproblemen half. Aber etwas Menschliches hatte ich noch nie bekommen. 
Das Menschliche bekam ich erst, seitdem ich ihn kannte. Seitdem ich Bill kannte...

Diagnose Blutkrebs - Dein letzter Wunsch veränderte mein LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt