» Schwesterherz

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  Den Abend ließen wir gemütlich ausklingen. David und Pat hatten sich ziemlich schnell nach meiner Entscheidung verabschiedet, da sie noch einen wichtigen Termin hatten. Die beiden G's hingegen blieben noch, schließlich hatten wir was zu feiern.
Meine Entscheidung und die kommenden Wochen betranken wir auch gleich. Für die Jungs gab es Bier und für mich ein Glas Sekt. Ich war noch nie der Mensch gewesen, der tief ins Glas schaut, wenn man etwas zu feiern hatte. Wann hätte ich denn auch mal so richtig Feiern gehen sollen? Ich hatte ja nicht einmal eine Möglichkeit dazu, als ich noch mein altes Leben führte. Ich genoss die Stimmung des Abends, als alles noch lockerer wurde, als es ohnehin schon war, Georg und Tom nur noch Witze rissen, da sie schon einiges Intus hatten und auch Gustav mitmischte und ich ihn von einer ganz anderen Seite kennen lernte. Bill und ich hielten uns eher ein wenig zurück. Ich kannte es nicht, viel zu trinken und Bill wollte mir in meinem Zustand womöglich Gesellschaft leisten. Nicht, dass die anderen sturzbetrunken waren, aber sie waren angetrunken und dass Menschen neben der lustigen Seite auch eine solch nervige haben konnten überraschte mich ehrlich gesagt.
Vor uns lagen nur noch zwei Nächte, bis es endlich losgehen sollte und ich das andere Leben der Vier kennen lernen durfte. Um meine Wohnung würden sich noch zwei weitere Kollegen von David und Pat kümmern, um sie aufzulösen. Das Klavier würde hier in dem großen offenen Wohnzimmer von den Zwillingen einen Platz finden und meine Möbel gingen an das Kinderheim, in welchem ich vor Beccy's Tod gearbeitet hatte.
Ich hatte gerade die große Verabschiedung von den Heimkindern und den Betreuern, die ich noch von meiner Arbeit kannte, hinter mir und nun wollte ich zu Beccy auf den Friedhof gehen und ihr erzählen, dass ich mit den Jungs mitgehen würde. Ich wusste, dass sie sich gefreut hätte, wenn sie vor mir gestanden und ich ihr die Nachricht hätte überbringen können. Aber irgendwie wusste ich – auch wenn ich der Meinung war, dass es keinen Gott geben würde -, dass sie es auch so hören würde und sie sich zusammen mit meiner Mutter freuen würde. Da war ich mir ganz sicher.
Nun stand ich mit einer Tasse Kaffee in der offenen Küche und nippte an dem heißen Inhalt. Meine Jacke hatte ich noch an, da ich sowieso auf dem Sprung war und gleich wieder los wollte.
„Wo willst du denn hin? Bist du nicht gerade erst wiedergekommen?", sagte Tom, kam in die Küche und schenkte sich ebenso einen Schluck Kaffee in seine Tasse.
„Ich wollte noch mal zu Beccy, mich verabschieden.", lächelte ich.
„Achso, aber wir gehen doch noch mal hin, wenn wir fahren, oder nicht?", stutzig sah Tom mich an.
„Ja, doch, klar.", beruhigte ich ihn. „Aber ich wollte heute auch noch mal hin. Ich muss ihr so viel erzählen."
Toms Mundwinkel gingen in die Höhe und er verzog seine Lippen zu einem Lächeln. „Ich finds schön, dass du mittlerweile so gut mit ihrem Tod klar kommst, Lynn.", leicht strich er mir über meinen Arm und ging ein Stück an mir vorbei, um wieder in seinem Zimmer zu verschwinden. Doch bevor er aus dem großen Wohnraum verschwand, drehte er sich noch mal um. „Und grüß sie ganz lieb von mir.", lächelte er.
„Mache ich.", ich erwiderte seinen Gesichtsausdruck. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte musste ich grinsen. Es war süß, wie er sich mir gegenüber verhielt und auch ein ganz anderer Mensch war, als der, den man sonst unter Tom Kaulitz kannte. Ich war froh, dass ich diese Seite des Gitarristen nicht als Erstes kennen lernen durfte, sondern den Tom Kaulitz als Mensch. Den Tom Kaulitz mit Gefühlen, die er auch preisgab und nicht hinter einem schmutzigen Image versteckte.
Zehn Minuten später war ich auch schon zu Fuß auf dem Weg zum Friedhof. Ich wollte endlich mal wieder einen Spaziergang machen und die Stille genießen, soweit man Stille oder Ruhe in einer solchen Großstand überhaupt haben konnte. Bill hatte noch einen Termin, konnte mich somit nicht fahren, doch das fand ich auch nicht schlimm.
Ich lehnte mich leicht an das gusseiserne Tor, welches mit einem Ruck und einem lauten Quietschen aufging. Es war ein alter, aber trotzdem nicht unmoderner Friedhof. Er gefiel mir. Es war kein typischer Großstadtfriedhof, aber auch keiner, den man sonst vom Dorf kannte. Es war irgendwas dazwischen und genau diese Mischung gefiel mir so sehr.
„Hey, Schwesterherz.", flüsterte ich lächelnd und kniete mich vor ihr Grab. „Ich soll dich von Tom grüßen."
Ich kicherte leicht und strich mit einem Finger über einen Stein in Herzform, welcher mit dem Spruch Erinnerungen, die unsere Herzen berühren gehen niemals verloren geziert war. Der Stein war von Bill und Tom. Ich fand ihn wunderschön. Der Spruch sprach mir aus dem Herzen. Es stimmte. All' die Erinnerungen, die ich mit Beccy erlebt hatte und die mich in der Vergangenheit geprägt hatten, waren immer noch in meinem Herzen. Und ich wusste, dass sie da noch sehr lange bleiben würden. Egal, ob Tage, Wochen, Monate oder Jahre vergehen würden.
„Und ich muss dir unbedingt was erzählen...", schnell schüttelte ich meinen Kopf, um meine Gedanken zu vertreiben und zu dem eigentlichen Grund meines Daseins zu kommen. „Ich werde mit den Jungs mitgehen. Sie haben mich gefragt, ob ich sie begleiten würden... sie waren Feuer und Flamme, haben mich schon fast dazu gedrängt...", ich musste lachen, wenn ich an die Diskussionsrunde am vorherigen Abend zurück dachte. „na ja, nicht unbedingt gedrängt, aber sie haben so drauf gepocht, dass ich mit ihnen mitgehe. Ich bin ihnen so dankbar, Beccy...", meine Stimme, welche zuvor noch so voller Euphorie war, wenn ich an die bevorstehende Zeit dachte, verringerte sich plötzlich um ein paar Oktaven. „...und ich bin ihnen so dankbar, dass sie so für mich da waren, als du... als du von uns gegangen bist."  

Diagnose Blutkrebs - Dein letzter Wunsch veränderte mein LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt