» Panik

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Ich wusste nicht, wie lange wir noch einfach so dasaßen: Mein Kopf auf seiner Schulter, ein Arm von ihm umschlang meinen Oberkörper, strich manchmal leicht über meinen Oberarm und seine letzten Worte hallten immer wieder in meinem Kopf wider. 
Ich versuchte sie die ganze Zeit zu verdrängen, mir erst einmal keine Gedanken mehr darum zu machen, sondern alles einfach auf mich zukommen zu lassen. Doch es gelang mir irgendwie nicht. Zumindest nicht, wenn er so eng bei mir saß, seinen Kopf an meinen gelehnt hatte.
Ich hoffte, dass jeden Moment irgendetwas passierte, was mich aus dieser Situation rettete, die mir mit jeder weiteren Sekunde immer unangenehmer wurde - weiß der Geier, warum.
"Lynn, sie ist wach.", tauchte plötzlich Tom hinter Bill und mir auf. Als hätte er mich erhört und mir herbei geeilt. Ich sah ihn dankend an, auch wenn er absolut keine Ahnung davon hatte, warum ich das tat - soweit er meinen Blick interpretieren konnte - und erhob mich langsam. Das Bild, welches Bill und ich ihm boten, wunderte ihn anscheinend nicht wirklich, denn er sah uns an, als sei es das Normalste der Welt, dass wir so - Arm in Arm - auf dem Boden eines Balkons der Uni-Klinik saßen. 
"Okay, ich komme.", sagte ich und flüchtete nun aus der verflixten Situation, die sich sogleich gut, als auch seltsam und unangenehm anfühlte. Aber vielleicht fühlte sie sich auch nur so unangenehm an, weil ich dieses Gefühl, welches er mir überbrachte, nicht kannte. Weil ich es einfach noch nie kennen gelernt hatte.
"Ich komme mit, dann können wir gleich anfangen zu spielen.", lächelte Bill und erhob sich ebenso.
"Sie sieht aber irgendwie immer noch nicht wirklich erholt aus.", sagte Tom leise neben mir, als wir über den Krankenhausflur liefen. 
"Wie?", ich wurde langsamer, blieb fast stehen, bis ich merkte, dass Bill von der anderen Seite einen Arm um meine Hüfte legte und mich weiter mit sich mitzog, damit ich das Tempo von ihm und Tom nicht ganz verlor. 
"Sie ist total blass und redet auch nicht viel. Ihr Lächeln sieht nicht so... so lebhaft aus, wie vorher...", seine Worte lösten Panik mit mir aus, sodass ich mein Tempo so verdoppelte, dass selbst die Zwillinge Mühe hatten, mir zu folgen.
"Beccy...?", hauchte ich, als ich in das Zimmer trat und mich auf die Bettkante meiner Schwester setzte. Dass Gustav und Georg noch im Raum waren, ignorierte ich. 
"Hm...?", grummelte sie nur und sah mich aus kalten Augen an. Ihr Anblick stieß mir ein Pfahl durch mein Herz und ließ es fast erfrieren. 
"Ist alles okay?", hauchte ich und strich ihr eine Strähne aus ihrem Gesicht. Ihre Stirn war voller kaltem Schweiß.
"Ja...ja, sie sollen jetzt spielen...", lächelte sie, doch ich sah, dass es nicht echt war. Ich sah, dass es so gequält war. So, als müsste sie es tun, nur, um mir die Sorgen zu nehmen.
"Jungs, spielt!", völlig perplex sahen die vier mich an, als ich sie mit schroffer aber bestimmter - fast zwingender Stimme - aufforderte, mit dem Spielen zu beginnen.
Ohne irgendetwas zu erwidern, fingen sie an zu spielen. Sie schienen sich schon einige Lieder zurecht gelegt zu haben, die sie vorhatten zu spielen. Als sie ihre 'Setlist' durchgespielt haben, fragten sie Beccy, welche Lieder sie gerne hören würde. 
Beccy hatte die ganze Zeit über ihre Augen geschlossen, bewegte leicht und fast zwingend ihre Lippen mit dem Text mit und sagte nur kurz den Liednamen, von dem Lied, welches sie sich wünschte. 
Die ganze Zeit über beobachtete ich meine kleine Schwester, ließ sie keine Sekunde aus dem Auge. Vergaß ganz, dass schräg versetzt von mir noch die vier Jungs saßen. Ich blendete sie aus, hatte nur Augen für meine kleine Schwester. Jedes Mal wenn sie wieder aufstöhnte, da sie sich bewegte und verschmerzt die Augen verzerrte, kam immer ein Stück Panik in mir auf. Ich wusste nicht, wie lange ich mir das Ganze noch mit ansehen konnte, bevor ich aufspringen und Anna zur Hilfe holen würde.
Die Jungs hatten so ziemlich jedes Lied gespielt, sodass es sogar ihnen schwer fiel, noch eins aus ihrem Gedächtnis zu kratzen, welches sie noch nicht gespielt hatten. Beccy gab gar keine Antworten mehr, lag nur da, verzog schmerzhaft ihr Gesicht. Doch jedes Mal, wenn ich sie ansah, versuchte sie sich ein Lächeln aufzuzwingen. Auch die Band bekam mit, dass etwas mit Beccy nicht stimmte.
"Ich weiß... weiß kein Lied mehr...", sagte Tom dann leise und verängstigt zugleich und starrte Beccy schon nahezu an. 
"Ich... ich komme gleich wieder.", zuerst stotterte ich fast, doch den restlichen Teil des Satzes ratterte ich nur so aus meinem Mund. 
Viel zu sehr war ich in Eile, endlich Hilfe zu holen. Denn irgendwas stimmte ganz und gar nicht mit Beccy.

Diagnose Blutkrebs - Dein letzter Wunsch veränderte mein LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt