» Gespräch und Gedanken

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"Beccy, ich habe da wen für dich mitgebracht.", flüsterte ich meiner Schwester entgegen, welche müde mit den Augen blinzelte. Ich musste grinsen - gleich wäre sie sicherlich hellwach und ihre Müdigkeit wäre wie verflogen. Kurz drückte ich ihr einen Kuss auf die Stirn.
Gespannt sah sie mich an. "Wen denn?", ich wusste, wieso sie so guckte, schließlich hatten wir niemanden mehr, der sich für uns interessierte. Wer also sollte sie besuchen kommen?!
Die vier Jungs kamen in das Zimmer getreten. Allen voran Bill. Sofort setzte Beccy sich auf, zog ihre Beine zu einem Schneidersitz zusammen und drückte meine Hand. 
"Lynn, das... das kann... kann nicht sein.", hauchte sie nur und sah die Jungs an, als seien sie Aliens. Die Überraschung war mir gelungen. Sie starrte sie an, doch ich wusste, dass sie am liebsten aufgesprungen und durch das Zimmer gehüpft wäre, wenn ihre Krankheit es zugelassen hätte. 
“Doch, wir sind’s wirklich - live und in Farbe.”, lachte Bill Beccy an. Ab dem Moment brach das Eis zwischen Beccy und ihnen und ich wusste, dass sie meiner Schwester ihren schönsten Tag bereiten würden. 
Alle begrüßten sie mit einem Handschlag, nur Bill strich ihr kurz über die Wange. Auch wenn das Eis gebrochen war, diese Distanz blieb trotzdem. Es brauchte Zeit, die Distanz zwischen Menschen aufzuholen. Und ich hatte die Befürchtung, dass es gerade zwischen Beccy und ihnen noch ein wenig länger dauern würde. Aufgrund der Angst, meiner Schwester gegenüber etwas Falsches zu sagen, doch trotzdem wusste ich, dass sie es prima meistern würden. Zur Not war ich ja auch noch da. 
Sie unterhielten sich lange. Beccy stellte ihnen viele Fragen und ihre Krankheit war plötzlich wie weggeblasen. Als wäre sie ein normales Mädchen. Als hätte sie keine Krankheit, die sie innerlich zerstörte und auffraß. Und genau das wollte ich sehen.
Ich wollte sie glücklich sehen. Wollte dieses ehrliche, herzhafte, engelsgleiche Lachen von ihr sehen. Die Grübchen, die dadurch zum Vorschein kamen. Die Lebendigkeit in diesem Kind, was alles vergessen ließ. Die Witze, die sie trotz ihres Alters drauf hatte. Und diese normale Unterhaltung, die man mit ihr führen konnte - sie war einfach so erwachsen. Und ich war einfach so verdammt stolz auf dieses Mädchen, welches ich meine Schwester nennen durfte. Sie war alles für mich. 
Verträumt sah ich sie an. Was würde werden, wenn sie morgen, übermorgen, in einer Woche oder einem Monat plötzlich nicht mehr da war? Wen hatte ich dann noch? Wen konnte ich in den Arm nehmen? Sie wusste immer, wann ich traurig war, wusste immer den genauen Zeitpunkt abzuwarten, um mich in den Arm zu nehmen. Wusste, wie sie mich am besten aufheitern konnte. Wir hielten zusammen. Wir waren Eins, wir waren wie Ying und Yang. 

“Ich gehe eben ein wenig an die frische Luft. Aber ich bin sofort wieder da.”, lächelte Bill in die Runde und zückte unauffällig die Zigarettenschachtel aus der Jackentasche seines Bruders. Die anderen nickten nur und auch Beccy stimmte ein. 
“Ich gehe auch mit raus, Süße. Ich bin gleich wieder da. Die drei Jungs bleiben ja noch hier,... oder?”, kurz sah ich zu ihnen.
“Ja, klar.”, lächelte Gustav mir nickend entgegen. Dankbar lächelte ich zurück, drückte meiner Schwester einen Kuss auf und verließ mit Bill das Zimmer.
Bevor ich die Tür schloss, sah ich noch einmal zu ihr. Sie schien es nicht zu stören, dass ich ging, doch das machte mir nichts. Ich war nicht eifersüchtig oder verletzt, dass sie mehr auf die Jungs fixiert war. Ganz im Gegenteil - ich freute mich so sehr für sie. Sie verstanden sich alle super, hatten viel Spaß miteinander und ich hatte das Gefühl, sie mochten Beccy. Ich hielt mich bei allem ziemlich im Hintergrund; saß die meiste Zeit über nur da und genoss den Anblick meiner Schwester. Den Anblick ihrer Person, wie sie so unbeschwert da saß und lachte.
“Kommst du, Lynn?”, flüsterte Bill plötzlich und riss mich somit aus meinen Gedanken. Ich schloss die Tür nickend und ging ein paar Meter mit ihm in Richtung Balkon, der sich am Ende der Station befand. Schweigend traten wir in die kühle Herbstluft hinaus. Da es mich ein wenig zu frösteln begann, schloss ich schnell den Reißverschluss meiner Jacke. 
“Auch eine?”, fragte er mich und hielt mir die Schachtel mit seinen Zigaretten unter die Nase. 
“Ja, gerne.”, mit zittrigen Fingern, aufgrund der Kälte, zog ich mir eine hinaus und nahm das Feuerzeug, welches sich in meiner Hosentasche befand, heraus, um sie mir anzustecken.
Ich hatte mir geschworen aufzuhören. Doch seitdem dieser Stress, diese Angst und diese Anspannung wegen Beccy in mir war, konnte ich nicht anders. Es beruhigte mich auf gewisser Art und Weise. 
“Du bist ziemlich viel in Gedanken, oder?”, hauchte Bill in die kühle Mittagsluft. Indessen pustete er den Rauch aus seiner Lunge. Wieso fragte er so was? Wieso merkte er es?
“Wieso fragst du?”, flüsterte ich und zog an der Zigarette. Mit solch direkten Fragen wurde ich schon lange nicht mehr konfrontiert. 
“Du siehst so aus. Du schaust Beccy schon die ganze Zeit so an.”, er lehnte sich gegen das Geländer und musterte mein Gesicht. Es machte mich tierisch nervös, weswegen ich seinem Blick auswich und zu Boden sah; mit einem Stein spielte, der vor meinen Füßen lag.
“Ja, mag sein.”, flüsterte ich dann nur fast überhörbar. Mich wunderte es, dass er es überhaupt verstanden hatte. 
“Sie ist ein starkes Mädchen, Lynn.”, platzte es plötzlich aus ihm heraus. Aber er hatte Recht, er hatte verdammt Recht damit.
"Ja, sonst... sonst wäre sie nicht mehr hier...", hauchte ich nur. Meine gute Laune verwandelte sich plötzlich in unendliche Trauer und ich wollte nur noch alleine sein. Er sollte gehen, ich wollte eine Träne verdrücken, danach laut aufschluchzen und schreien. Mir den Schmerz von der Seele schreien. 
Es war ihr letzter Wunsch sie zu treffen. Mit der Hoffnung, die vier zu treffen, hatte sie gekämpft, das war ihr Grund weiterzuleben. Jetzt hatte sie die Jungs getroffen und ich wusste, dass sie sich jetzt aufgeben würde.

"Willst du alleine sein?", fragte er urplötzlich, wie aus dem Nichts in die Stille. Man hörte nur die Motorengeräusche der viel befahrenen Straße in weiter Entfernung. 
Ich hob meinen Kopf nicht, sah weiter auf den Boden, doch meine Augen weiteten sich. Woher wusste er, was ich gerade dachte? Schüchtern und schweigend nickte ich nur, bewegte mich nicht, ließ meine Zigarette zwischen meinen Fingern abbrennen. 
"Ich sage, dass du noch mit der Krankenschwester reden musst...", flüsterte er, drückte seine Zigarette in dem vorhandenen Aschenbecher aus und ging zur Tür rein. Im Vorbeigehen strich er mir sanft über meinen Arm, was mich für den ersten Moment zusammen zucken ließ. Doch nach einigen Sekunden legte es sich wieder und ich genoss seine Berührung. 
Wie lange hatte ich schon nicht mehr dieses Gefühl, jemand würde sich um mein Wohlergehen kümmern? Wann hatte ich das letzte Mal das Gefühl, dass auf mich Rücksicht genommen wurde?
Die Tränen rannen aus meinen Augen und ich ließ mich an der Wand hinunter rutschen. Mit der einen Hand stützte ich meinen Kopf und in der anderen hielt ich immer noch die Zigarette, welche fast abgebrannt war. Es war fast wie Beccys Leben: Der Glimmstängel war nicht mehr lang, aber wirklich lang war er auch nie gewesen. Er war schon immer kurz und jetzt kurz davor ganz verbrannt zu sein. 
Genau wie Beccys Leben: Ihr Leben war noch nicht lang und trotzdem hatte sie nur noch ein wenig zu leben. Und dann wäre alles vorbei.
Der Gedanke daran ließ mich aufschluchzen und zusammen zucken. Es schmerzte ganz tief drinnen. Es schmerzte, sie gehen zu lassen. Alleine auf dieser Welt zu sein und sie nicht mehr bei mir haben zu können. Sie nie wieder in den Arm nehmen zu können. Aber ich wusste, dass es besser für sie war. Ich wusste, dass sie sich nur noch quälte und nur noch unter Schmerztabletten halbwegs normal den Tag überstehen konnte. Trotzdem wollte ich es nicht zulassen oder wahr haben. 
Wieso wir? Wieso sie? Wieso ein unschuldiges Mädchen, was noch nie einem Menschen, nicht einmal einer Fliege, etwas zu Leide getan hat? Wieso ein Mädchen, die gerade dabei war, ihr Leben genießen zu können? Wieso verdammt noch mal kein Schwerverbrecher, der kein Recht mehr auf ein Leben hatte? Wieso wird immer den guten Menschen das Beste genommen?!
Ich verfluchte die Welt jeden Tag aufs Neue. Ebenso wie diesen seltsamen Gott, der angeblich dort oben sein und auf uns aufpassen sollte. Ich glaubte noch nie an diese Hirngespinste. Es war schon immer meine Mama, die auf mich und Beccy aufpasste. Als sie hier auf der Erde war und jetzt eben aus dem Himmel. Ich glaubte daran, dass es diesen Himmel gab und ich glaubte auch daran, dass Beccy und Mom dann beide auf mich herabschauen konnten und auf mich aufpassen würden, doch an Gott glaubte ich nicht.
Denn gäbe es Gott, würde es erst gar nicht so weit gekommen, dass die beiden von dort oben auf mich aufpassen würden!

Diagnose Blutkrebs - Dein letzter Wunsch veränderte mein LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt