Prolog - » Vergangenheit

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Ich weiß nicht, wie lange ich nun schon hier sitze und ihre fast eiskalte Hand halte.
Die Hand meiner 11-jährigen Schwester, die so hilflos vor mir in ihrem Bett liegt. 
Sie hat Krebs - Blutkrebs. Es ist unheilbar, viel zu spät stellten die Ärzte es fest. Sie liegt seit fast zwei Monaten hier auf dieser Kinderkrebsstation in der Hamburger Uni-Klinik.
Und ich bin jeden Tag hier, um bei ihr zu sein und jede Sekunde, die sie noch erleben darf, zu einer ihrer Schönsten zu machen. 
Aber sie glücklich zu machen ist nicht schwer. In ihrem kurzen Leben hat sie schon viel zu viele Dinge erlebt, als dass sie irgendwelche hohen Ansprüche stellen würde.

Vor vier Jahren, als Beccy sechs und ich - mein Name ist Lynn - 15 war, verstarb unsere Mutter. Ebenso an der gleichen Krankheit, wie Beccy sie nun hat. Und an diesem 10.07.2006, als sie von uns ging, nahm Beccy’s und mein Leben gegen unseren Willen eine 360°-Wendung ein.
Unser Vater fing plötzlich an uns zu hassen. Viel zu sehr spiegelten wir das Gesicht unserer Mutter wider. Oft langte er zu und schenkte uns somit das ein oder andere blaue Auge. Doch ich konnte mir nicht mit ansehen, wie er Beccy, die damals mit ihren knappen sieben Jahren noch so hilflos war, grün und blau prügelte.
Ich unternahm etwas. Letztendlich landeten Beccy und ich im Kinderheim. Das machte uns beiden nicht sonderlich viel aus, denn die Hauptsache war, dass wir von unserem Vater getrennt waren. Und von dem hörten wir bis heute nichts mehr.
Als Beccy und ich zwei Jahre in dem Heim lebten, wurde ich volljährig und übernahm die volle Verantwortung für meine kleine Schwester. Mit Hilfe des Heims suchten wir uns eine schöne Wohnung in der Nähe der Stadt und begannen uns ein neues und eigenes Leben aufzubauen. 
Da mich die Heimleitung des Kinderheims, in dem ich zwei Jahre lebte, schon kannte und meine Begeisterung für einen Erzieherjob kannten, stellten sie mich ohne Berufsausbildung als Erzieherin bei sich ein. Ich bekam zwar weniger Geld und wusste, dass es schwer werden würde, ohne eine Ausbildung einen Job zu bekommen, wenn der im Heim nicht für immer sein sollte, doch das war mir egal.
In dem Moment zählte nur, dass ich einen Job hatte und ich mich und meine Schwester über die Runden bringen konnte.
Wie vom Schicksal verfolgt hielt das Glück gerade ein paar Monate an, als der Arzt bei Beccy bei einer harmlosen Blutabnahme Blutkrebs diagnostizierte. 
Zuerst wurde sie mit Tabletten vollgepumpt und bekam ihre Chemotherapie. Jedes Mal zerriss es mir das Herz, sie so hilflos in ihrem Bettchen liegen zu sehen.
Seit anderthalb Jahren kämpft sie nun schon gegen den Krebs an. Trotz alle dem war sie die ganze Zeit über ein lebensfrohes Mädchen. 
Bis sie sich aufgab. An diesem einen Tag sagte sie zu mir, dass sie nicht mehr wolle, dass sie lieber bei Mommy im Himmel sei, damit sie mit ihr auf mich aufpassen konnte. Sie war noch jung, bekam das Ganze aber trotzdem voll und ganz mit. 
Sie hatte noch so viele Wünsche und Träume, die ich ihr erfüllen wollte. Doch dazu würde es nicht mehr kommen, das wusste ich. Bald wäre es so weit und ich müsste sie gehen lassen.

Als ich eines Nachmittags an ihrem Bettchen saß sprach sie mich auf ihren Traum an, den sie unbedingt noch erfüllt haben wollte.
“Es ist mein letzter Wunsch, Lynn. Ich will die vier einmal treffen, bitte...”, hauchte sie mir damals entgegen.
Meine Schwester war seit zehn Jahren mein Ein und Alles und ich wich ihr nie länger als nötig von der Seite. 
Und genau deswegen sollte sie ihren letzten Wunsch erfüllt bekommen!

Diagnose Blutkrebs - Dein letzter Wunsch veränderte mein LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt