» Für immer

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Bill hatte mich soweit fertig gemacht, während ich artig auf dem Klodeckel im Badezimmer saß und keinen Mucks von mir gab. Ich wollt aber auch keinen Mucks von mir geben. Wollte viel lieber auf den Fliesenboden vor mir gucken und mich voll und ganz darauf konzentrieren, meine Tränen zurückzuhalten und meine Gedanken an die kommende Beerdigung verdrängen.
Es gelang mir nicht die ganze Zeit, zwischendurch sträubten sich meine Gedanken dagegen, zu verschwinden und brannten sich in meinen Kopf ein, was Tränen in mir aufkommen ließ.
Ich stand gerade in Bills Zimmer vor dem großen Fenster, welches bis auf den Boden ging und durch lange Gardinen von Blicken geschützt wurde. Ich hatte die zwei Gardinen nach rechts und links ein wenig auseinander gezogen, um nach draußen zu sehen. Mit meinen Armen verschränkt vor der Brust stand ich an dem Fenster und sah in die Ferne. Sah in den blauen Himmel, aus welchem die Sonnenstrahlen schienen, als sei es Hochsommer. Es sah warm aus und es schien, als könnte es der schönste und wärmste Tag des Jahres werden. Doch es war nicht so. Es würde der schrecklichste und kälteste Tag werden. Und nicht nur des Jahres, sondern meines ganzen Lebens.
"Lynn, kommst du? Der Arzt ist da.", vernahm ich plötzlich Bills Stimme hinter mir. Ich hatte gar nicht gehört, wie er ins Zimmer kam, spürte lediglich seine stützende Hand auf meiner Hüfte.
Ich nickte nur monoton, drehte mich vom Fenster weg und ging vor Bill aus dem Zimmer hin ins Wohnzimmer, wo Doktor Duffner seine Tasche bereits auf dem Tisch ausgebreitet hatte und eine Flüssigkeit in die Spritze zog.
"Oh, hallo, Lynn.", begrüßte er mich freundlich und streckte mir seine rechte Hand, welche noch nicht mit einem Handschuh überzogen war, entgegen.
"Hi...", flüsterte ich nur leise und ließ mich auf der Couch nieder. Ich hasste Spritzen und somit auch das, was gleich passieren würde. Schon als kleines Kind machte ich einen Aufstand, wenn ein Arzt mit einer Spritze nur in meine Nähe kam. Dass das jetzt anders geworden ist und ich mit 19 Jahren nicht mehr wie am Spieß rumbrüllte war klar, aber Angst hatte ich trotzdem noch.
"Nicht verkrampfen, entspann dich.", sagte der Arzt noch leise, bevor er mir die kalte Nadel in die Haut drückte und die Flüssigkeit in meinen Arm spritze. Schmerzvoll zog ich das Gesicht zusammen und spannte mich automatisch an.
"So, schon vorbei.", lächelte Doktor Duffner und packte seine Sachen wieder zusammen, während ich mir ein kleines Stück Papier auf die Einstischstelle drückte und darauf wartete, dass sie mit einem Pflaster überklebt wurde.
"Ich bin noch mal im Zimmer.", sagte ich leise, als ich fertig war und der Arzt sich leise mit Tom und Bill in der Essecke unterhielt. Ich hatte keine Lust auf dem Sofa zu sitzen und irgendwelche Bruchteile und Wortfetzen des Gesprächs aufzupicken. Es ging eh wieder darum, was sie machen sollen, falls die Spritze nicht so wirkt, wie erwartet.
Die Jungs gaben nur ein 'Okay' von sich und Doktor Duffner verabschiedete sich freundlich mit einer gehobenen winkenden Hand von mir.
Langsam tapste ich ins Zimmer zurück, wo ich meinen Ipod schnappte und mich lang auf dem Rücken auf das Bett legte und an die Decke starrte.
Ich ging meine Listen des Ipods durch und fand ein Lied von einem Reggaekünstler. Nosliw nannte er sich und das Lied, welches ich anklickte hieß Nicht mehr da. Es passte ziemlich gut auf meine momentane Situation. Ich lauschte den Reggaetönen, welche mir wieder einmal Tränen in die Augen brachten. Ich wusste nicht, wann es endlich aufhörte. Aber es sollte aufhören. Ich hatte keine Kraft mehr zum Weinen, wollte endlich wieder unbeschwert lächeln und lachen können.
Ich hoffte so sehr auf diesen Tag. Ich hoffte so sehr, dass es der letzte Tag war, wo es so sehr weh tat, dass es mich kaputtmachen konnte.
Ich wusste nicht, wie lange ich hier lag. Ich wusste selbst nicht, ob es mir lang oder kurz vorkam, bis Bill ins Zimmer kam und mir sagte, dass wir uns auf den Weg machen wollten. Ich wusste nur, dass ich dort nicht hin wollte, dass sich eine panische Angst in mir breit machte, die jedoch nicht ausbrach. Sie befand sich einzig und allein in mir drin, ließ mich nach außen hin nicht mal panisch wirken...es war ein seltsames Gefühl. Ich hatte das Gefühl von der Panik erdrückt zu werden, hatte das Gefühl gleich wegen ihr zu hyperventilieren, da sie sich so in mir aufstaute.
"Du schaffst das. Außerdem... Tom und ich... wir sind da, okay?", flüsterte er, als er mich umarmte und meinen Kopf gegen seine Schulter drückte. Sanft strich er über meine Haare.
"Ich habe einfach so eine Angst. Ich... gleich heißt es, dass sie für immer geht... dass ich sie für immer gehen lasse... ich kann das nicht...", schluchzte ich und krallte mich in seinen Rücken.
"Doch, du kannst das... dir wird's danach besser gehen, Lynn. Du behältst sie in guter Erinnerung, lässt sie aber in die Welt gehen, wo es ihr besser geht. Wo sie unbeschwert leben kann - ohne ihre Krankheit. Sie wird von den Qualen befreit, ist aber immer bei dir. Da ganz tief drin.", hauchte er und legte seine Hand auf den Fleck, wo sich mein Herz befand, als er mich aus seinen Armen gehoben und mich durchdringlich angesehen hatte.
"Bleib bei mir, Bill...", hauchte ich darauf nur. "Ich will nie mehr einen Menschen gehen lassen, der für mich so viel mehr war, als mein eigenes Leben.", dieses Mal war ich es, die ihn durchdringlich ansah.
"Ich und du - für immer, Lynn.", hauchte er und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

Diagnose Blutkrebs - Dein letzter Wunsch veränderte mein LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt