"Das ist der Flügel, auf dem ich meinen ersten Tastenanschlag gemacht habe.", präsentierte ich Bill das schwarze prächtige Stück in dem großen hellen Wohnzimmer mit einem Lächeln auf meinen Lippen.
"Wow, der ist wunderschön.", sagte er gedankenverloren, ging auf das große Instrument zu und strich mit seinen Fingerspitzen über den Deckel, unter welchem sich die Tasten befanden.
"Spielst du mir was vor?", fragte er plötzlich, blieb stehen und drehte sich zu mir um. Skeptisch sah ich auf den großen schwarzen Flügel.
"W-wie? Jetzt?", fragte ich noch einmal unsicher nach, um auch sicherzugehen, dass ich mich nicht verhört oder irgendetwas falsch aufgenommen hatte.
"Ja, wenn du willst natürlich nur.", wieder lächelte er und ließ sich auf den Hocker sinken, welcher vor dem Flügel stand.
"Mh, ja... ja, okay.", ich musste mir ein plötzliches Grinsen verkneifen - keine Ahnung, wo das auf einmal herkam - und ließ mich neben ihm auf dem Hocker nieder, auf welchem genügend Platz für zwei war.
Langsam klappte ich den Deckel auf und die Tasten glänzten mir entgegen. Man sah, dass sie benutzt waren, aber trotzdem befanden sie sich in einem guten Zustand. Ich überlegte kurz, was ich spielen könnte, beziehungsweise welches Stück ich noch ganz drauf hatte, um es fehlerfrei zu spielen. Es war schwer eins aus meinem Gedächtnis heraus zu wühlen, da das Klavierspielen ziemlich auf der Strecke geblieben ist, seitdem Beccy im Krankenhaus war. Doch nach langen Überlegungen fiel mir das Lied ein, welches ich gespielt hatte, bevor ich für das letzte Mal in die Klinik gefahren bin, um Beccy zu besuchen. Es handelte sich um Moonlight von dem Pianisten 'Yiruma'.
Es war ein trauriges und sehr emotionales Lied, doch ich liebte es. Die Klänge waren einfach wunderschön.
Vorsichtig ließ ich meine Finger über die Tasten gleiten und fing an zu spielen. Schloss die Augen und konzentrierte mich ganz auf das, was hier geschah; auf das, was ich hier tat: auf das Spielen. Es war das erste Mal, dass ich jemand anderem als Beccy etwas auf dem Flügel meiner verstorbenen Mutter vorgespielt hatte. Es tat gut, mal wieder an diesem Instrument zu sitzen, mit welchem ich so viele Erinnerungen verband. Und ebenso gut tat es auch mal wieder hier zu sein; in der Umgebung, die Beccy so vertraut war, wie nichts anderes auf der Welt.
Während ich spielte bemerkte ich nicht einmal den Blick von Bill, welcher ununterbrochen auf mir lag. Ich hätte es spüren müssen, wie er mein Gesicht von der Seite her musterte und jede Pore untersuchte, mich so intensiv ansah wie es sonst kein anderer getan hatte. Ich blendete alles aus, bis zu dem Moment, in dem der letzte Ton ausklang.
"Wow...", hauchte Bill neben mir nur, als ich meine Finger von den weißen Tasten nahm und sie auf meine Oberschenkel legte. "Das... das war... wunderschön, Lynn..."
"Danke...", lächelte ich verlegen und sah zur Seite, wo mich sofort Bills Blick traf. Es war das erste Mal seit langem, dass ich wieder verlegen in seiner Gegenwart war. Ich senkte kurz meinen Blick und musste über mich selbst grinsen.
"Was grinst du so?", kicherte Bill neben mir, legte seinen Finger unter mein Kinn und hob somit meinen Kopf an.
"Nichts, schon okay.", lachte ich auf und schüttelte meinen Kopf. "Lass uns meine Sachen zusammen packen, falls ich irgendwo noch welche finden sollte."
Ich stand auf und wartete, dass Bill es mir nachtat, damit wir zusammen in mein Zimmer gehen und die restlichen Klamotten in meine Tasche packen konnten.
"Bill? Warum machen wir das eigentlich? Ich... ich meine, ich muss irgendwie... doch auch bald zurück. Ihr seid bald wieder unterwegs.", fiel mir auf, als ich einen Pullover nach dem anderen in die Tasche legte.
"Das erklären Tom und ich dir später, okay?", bekam ich nur als Antwort, mit welcher ich mich für den restlichen Tag abfinden musste, denn die eigentliche Antwort auf meine Frage bekam ich erst am Abend, als Tom wieder nach Hause kam.
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Diagnose Blutkrebs - Dein letzter Wunsch veränderte mein Leben
Fanfiction[1. Teil der Diagnose-Trilogie.] - "Es ist mein letzter Wunsch, Lynn. Ich will die Vier einmal treffen, bitte...", hauchte die 11-jährige ihrer großen Schwester entgegen. Meine Schwester war seit 11 Jahren mein Ein und Alles und ich wich ihr nie län...