» Glückstag

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Heute war der Tag gekommen. Es war so weit, die vier würden heute auf meine kleine Schwester treffen und sie zum glücklichsten Mädchen der Welt machen. Ich freute mich riesig für sie.
Ich wusste nicht, ob ich mich ebenso auf die vier freute, weil sie etwas Berühmtes waren, jedoch hatte ich mich in den ganzen Jahren, wo sie schon berühmt waren und meine Schwester ein riesiger Fan von ihren war, nie mit ihnen auseinandergesetzt. Vielleicht hatte ich mal den ein oder anderen TV-Auftritt der vier zusammen mit Beccy verfolgt, weil sie wollte, dass ich sie auch einmal sah, doch das war es auch. Ich musste zugeben: Ich hatte mich nie wirklich für die Band interessiert.
Ich hatte mich auch nicht extra schick angezogen oder sonst irgendwas. Ich hatte eine ganz normale Jeans mit vereinzelten Löchern und dazu einen schwarzen Kapuzenpullover an. Meine Haare fielen schlaff über meine Schultern und meine Augen wurden einzig und allein mit etwas Wimperntusche hervorgehoben. 
Ich hatte mich die ganzen Jahre schon für keinen Menschen mehr schick gemacht, wieso also für die vier, wenn ich sie das erste und letzte Mal sehen würde?
Meine Schwester war heute nicht besonders gut, aber auch nicht besonders schlecht drauf. Doch für einen derartigen Besuch, der sich über den ganzen Tag hinziehen sollte, war sie auf jeden Fall ausgeschlafen genug und die nötige Kraft besaß sie auch - da war ich mir sicher. 
Sollte sie zwischendurch einschlummern, konnte ich ja immer noch einen Kaffee mit den Vieren im Schwesternzimmer trinken gehen. Es würde sich schon eine Lösung finden, da war ich mir sicher.
Ich war schon seit acht Uhr hier und gleich - um zehn Uhr - sollten die Jungs eintreffen.
Es waren nur noch ein paar Minuten. Wenn die Uhr hier in Beccy’s Zimmer richtig ging, waren es - um genau zu sein - nur noch drei.
“Lynn, kommst du mal eben? Ich muss noch mal was mit dir besprechen.”, kam Anna ins Zimmer meiner Schwester. Ich wusste ganz genau, dass sie nichts mit mir besprechen wollte. Es sollte losgehen, die vier waren eingetroffen.
Ich lächelte Beccy noch einmal glücklich zu, da ich wusste, was gleich auf sie zukommen würde, und ging mit schnellen Schritten aus dem Krankenzimmer.
"Anna, was ist los? Sind sie da?", fragte ich sie, als ich vor dem Schwesternzimmer stand. 
"Sie sind unten eingetroffen. Sie kommen hinten durch den Hintereingang. In fünf Minuten sind sie hier.", lächelte sie mir entgegen. Es steckte sofort an.
"Ich freu mich so für Beccy.", mir kamen vor Rührung fast die Tränen, wenn ich daran dachte, dass ich es wirklich geschafft hatte, ihr ihren letzten Wunsch zu erfüllen. 
"Ich mich auch. Und ich freu mich für dich. Dass du es geschafft hast. Dass du deiner Schwester in den letzten anderthalb Jahren trotz ihrer Krankheit noch so viel ermöglicht hast. Und dass du sie dahin gebracht hast, wo sie jetzt ist. Dass du sie zu dem gemacht hast, was sie jetzt ist. Sie ist ein wunderbares Mädchen, Lynn.", Anna stand auf und nahm mich in den Arm, da sich nun eine Träne nach der anderen den Weg über meine Wange nach unten bahnten. 
"Jetzt aber schnell die Krokodilstränen wegwischen. Sonst denken die vier noch irgendwas Falsches von mir.", versuchte ich zu scherzen.
"Ich glaube nicht, dass sie das tun würden. Egal, was du heute noch an Tränen verschütten würdest - keine einzige würden sie dir übel nehmen. Nicht in deiner Situation.", sprach Anna mir gut zu. 
"Du magst recht haben.", lächelte ich und sah kurz in den kleinen Spiegel, der hinter der Tür hing, richtete meine Schminke und sah zufrieden zu Anna. "Jetzt kann es ja losgehen!"

Es dauerte nicht mehr lange und die vier Jungs kamen den Gang entlang gelaufen. 
"Da sind sie.", sagte Anna und kam aus dem Schwesternzimmer heraus. Sofort ging sie ihnen entgegen, reichte ihnen die Hand und dankte fürs Kommen.
"Das ist Lynn, die Schwester von der kleinen Beccy. Sie wird heute dabei sein.", lächelte Anna und deutete auf mich. Ich hielt mich im Hintergrund. Seitdem Beccy krank war, war ich nicht mehr die offene Lynn, wie es die meisten Vertrauten von mir kannten. Ich war gegenüber anderen Menschen, die ich nicht kannte, sehr zurückgezogen und schüchtern.
"Hey, ich bin Bill.", lächelte mich der Sänger der Band an. Ich lächelte zurück, streckte ihm zaghaft meine Hand entgegen, welche er lächelnd empfing und leicht drückte. 
Auch die anderen drei stellten sich mir vor.
"Ich...ich wollte mich im Voraus schon mal bei euch bedanken, dass... dass ihr gekommen seid und meiner Schwester diesen letzten Wunsch erfüllt.", druckste ich herum. Ich fand, es gehörte sich so und trotzdem fiel es mir unglaublich schwer. Unglaublich schwer zu sagen, dass es ihr letzter Wunsch war.
"Wir machen das gerne. Die Hauptsache ist, dass sie... dass sie glücklich ist.", stotterte Bill. Er wusste anscheinend nicht genau, was er sagen sollte, doch ich nahm es ihm auf keinen Fall übel. Wer wüsste schon, was er einem Mädchen sagen sollte, deren Schwester nur noch eine unbestimmt kurze Zeit zum Leben hatte?
Ich lächelte nur.
"Wollen wir dann mal zu ihr gehen?", fragte Anna. Alle vier nickten, doch Tom hielt uns zurück, als wir gerade Richtung Zimmer gehen wollten.
"Ich will jetzt nicht unsensibel oder... oder total scheiße klingen, aber... wir hatten so was auch noch nicht, Premiere sozusagen. Wie geht sie damit um?", er hatte Angst, zumindest war sie ihm wie ins Gesicht geschrieben. In diesem Moment musste man ihn nicht kennen, um zu wissen, was er dachte und fühlte. Man sah es ihm an; es würde ein Blinder sehen.
Auch die anderen sahen nicht gerade fröhlich aus.
"Hey... macht mal alle nicht so ein Gesicht und schaut mal nicht so, als würde die Welt gleich untergehen. Ihr könnt bei ihr nichts Falsches sagen. Sie geht damit um, als wäre sie eine erwachsene Person. Nein, eigentlich geht sie damit noch besser um, als eine erwachsene Person. Ihr ist bewusst, dass... dass sie nicht mehr lange leben wird und sie genießt die restlichen Tage einfach nur...", beruhigte ich sie. "Und jetzt lasst uns mal zu ihr gehen. Sie denkt sich sicher schon, Anna hätte mich bei einer 'Besprechung' aufgefressen.", zwang ich mir ein wenig das Lächeln auf meine Lippen und den glücklichen Unterton in die Stimme. Ich wusste nicht wieso, aber ich hoffte, ich könnte ihnen so die Angst nehmen. 
Ein wenig Erleichterung fiel von ihren Gesichtern, wenn auch nicht viel; aber wenigstens ein wenig. 
Anna ging voraus, von mir gefolgt, neben mir Bill und hinten dran Tom, Gustav und Georg. 
Ich war so gespannt, ich war so gespannt auf ihre Reaktion, auf dieses herzhafte und glückliche Lächeln!

Diagnose Blutkrebs - Dein letzter Wunsch veränderte mein LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt