» Schmerz und Trauer

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"Anna,... komm.... komm bitte schnell!", japste ich nach Luft, als ich den Gang entlang zum Schwesternzimmer in einem rasanten Tempo gelaufen war. Wie eine Verrückte wedelte ich mit meinen Armen umher und hüpfte vor Aufregung von dem einen auf den anderen Fuß.
"Hey, beruhig dich... was ist los?", kam Anna auf mich zugestürmt, hielt mich sanft, aber bestimmt an meinen Schultern fest und versuchte mich zu beruhigen, indem sie auf mich einredete. Als ich einigermaßen Luft bekam, schilderte ich ihr die Situation.
Mir kam es vor, als waren Minuten vergangen, doch in Wahrheit waren es wahrscheinlich nur Sekunden, als wir wieder im Krankenzimmer von Beccy angekommen waren. Sofort riss ich die Tür auf und vernahm die sanften Gitarrenklänge der Jungs. Sie spielten Hilf mir fliegen, das Lieblingslied meiner kleinen Schwester. Sofort kamen mir die Tränen. Wie die vier Jungs am Ende des Bettes saßen, spielten und sangen und wie starr auf meine Schwester sahen. 
"Hört auf zu spielen!", befahl ich ihnen mit einem harten Ton. 
"Ich... es tut uns leid, aber sie wollte es so... sie... sie hat gesagt, dass wir nicht aufhören sollen...", stotterte Tom und sah mich entschuldigend an. 
"Jungs, geht bitte aus dem Zimmer.", meldete sich Anna nun in einem strengen Ton zu Wort, drückte auf den Klingelknopf, der seitlich auf dem Bett lag und versuchte Beccy zu beruhigen. 
Ich nahm nicht mehr viel wahr, spürte nur noch, wie ich plötzlich meine Hand wie in Trance auf die ihre legte, sie fest zudrückte und mir Tränen aus den Augen stiegen. Ich starrte sie an, sah in ihr qualvoll verzogenes Gesicht, sah in ihre Augen, die mich weit aufgerissen ansahen. 
"Geh nicht...", flüsterte ich, als ich plötzlich zwei starke Hände an meiner Hüfte spürte, welche mich fordernd aus dem Zimmer zogen. Meinen Blick wendete ich derweil nicht von Beccy ab, viel zu viel Angst hatte ich, dass ich sie das letzte Mal lebend sehen würde.
Gerade als die Tür hinter mir geschlossen wurde, stürmten an die fünf Ärzte an mir vorbei und traten in das Zimmer, aus welchem ich gerade gekommen war. Ich wusste nicht, was ich denken, was ich fühlen sollte. Ich fühlte Leere in mir, ein unbeschreiblich großes Loch, welches höllisch schmerzte. Was hatte das zu bedeuten? Wieso spürte ich diesen Schmerz?
Ich stand einfach nur da - mitten auf dem Gang der Kinderkrebsstation und starrte den langen Flur entlang. Hier und da hörte man Kinder lachen, schreien und toben. Sie flitzten von dem großen Aufenthaltsraum am Ende des Flures in ihre Zimmer und wieder zurück. Ihr Eltern lachten mit ihnen und man konnte förmlich ihre Erleichterung in den Augen sehen, dass ihre Kleinen trotz ihrer Krankheit noch einen solch großen Lebensmut besaßen. Genauso wie Beccy.
Doch hatte Beccy ihren Lebensmut aufgegeben? Hatte sie den Kampf, den sie gegen diese Krankheit führte, aufgegeben? Das konnte sie nicht tun, nicht jetzt. Sie konnte mich nicht alleine lassen.
"Lynn, komm...", vernahm ich plötzlich eine Stimme neben mir und spürte wieder die starken Hände an meiner Hüfte. Ich wurde geführt, wusste nicht, wo lang wir gingen, geschweige denn wohin. Ich ließ mich führen, als wäre ich blind, vertraute demjenigen, der mich an den Hüften gepackt hatte, wie blind. Anfangs nahm ich nicht einmal wahr, wer es war, doch als ich die fordernden Worte aus dem Mund des noch Unbekannten vernahm, wusste ich, dass es nur einer sein konnte: Bill.
Als wir stehen blieben, drückte er mich auf ein Sofa, auf welchem ich bereitwillig platz nahm. Ich regte mich nicht, saß einfach nur da und starrte wieder gerade aus. Wir waren alleine hier und der Raum wurde mit Schweigen gefüllt. Ich wollte nicht reden, wollte mich nicht bewegen. Ich wollte einfach, dass die unendlich langen Minuten des Wartens umgingen und ich erfuhr, was mit meiner kleinen Schwester los war. 
Dass die langen Minuten umgehen sollten, dachte ich zumindest in diesem Moment noch. Doch als Anna den Raum, in welchem Bill und ich uns befanden trat, wusste ich, dass ich lieber noch weitere endlos lange Minuten gesessen hätte, als zu erfahren, was geschehen war. 
"Anna...", sprang ich von der Couch auf und ging einige Schritte auf sie zu. Doch als sie ihren Kopf hob und ihre Augen mit Tränen gefüllt waren, blieb ich abrupt stehen und starrte sie nur kopfschüttelnd an.
"Doch, Lynn...", hauchte Anna nur und fing an zu schluchzen. 
"Neeiiiin...", schrie ich, fiel in dem nächsten Moment auf den kalten Boden, sackte in mir zusammen.
"Lynn!", nahm ich Bills Spitzenschrei wahr, als ich mich auf die Knie fallen ließ. Ich schluchzte, schrie und weinte bittere Tränen. Ich spürte plötzlich, wie sich zwei Hände auf meiner Schulter niederließen und mich hoch ziehen wollten, doch ich rüttelte sie ab.
“Lass mich... lass mich in Ruhe, verdammt!”, schrie ich und sackte wieder in mir zusammen. 
Es konnte doch nicht sein. Es konnte nicht sein, dass sie auf einmal weg war. Es konnte nicht sein, dass ich jetzt alleine in meinem jungen Leben stand. Dass ich ohne das Liebste, was ich noch besaß weitermachen musste. Ich wollte nicht weitermachen, ich konnte nicht. Ich wollte zu ihr, zu Mom - zu den zwei wunderbarsten Menschen der Welt.
“Neiiin, verdammt...”, schrie ich herzzerreißend auf und ballte meine Hände zu Fäusten, mit welchen ich auf den Boden schlug. Auf dem Laminat unter mir bildete sich eine salzige Pfütze von Tränen. 
“Lynn, komm hoch, komm... schon...”, es war Bill, der wieder versuchte mich hoch zu ziehen, doch ich ließ es nicht zu. 
“Anna, hol mal bitte Tom, er... er muss mir helfen.”, rief er panisch über mich hinweg und nahm ich von hinten in den Arm, wog mich sanft hin und her. Anfangs wehrte ich mich noch dagegen, wollte ihn nicht am mich ranlassen, wollte alleine sein, wollte von dieser Welt, wollte zu Mom und Beccy, doch letztendlich hatte ich keine Kraft mich noch weiter gegen seine Griffe zu wehren. Im Moment war er sowieso stärker - egal, wie viel Mühe ich mir geben würde.
“Bill, was... Oh, Gott...”, ich nahm nicht wahr, wie Tom plötzlich im Türrahmen stehen blieb und sein Blick geschockt auf mir klebte. Es musste ein schrecklicher Anblick sein.
“Hilf mir, sie auf das Sofa zu setzen... bitte...”, nuschelte Bill. Sofort merkte ich, wie mich an jedem Arm zwei Hände packten, ich hochgehoben wurde und zwei Sekunden später auf etwas Weichem niedergelassen wurde. 
“Sollen... sollen wir nicht fahren...?”, flüsterte Tom, der neben Bill saß. Als ich diesen Satz wahrnahm krallte ich mich an Bill fest, drückte meinen Kopf auf seine Schulter und umarmte ihn von der Seite. Beruhigend strich er mir über den Kopf, doch die Tränen blieben nicht weg. Und ganz beruhigen konnte ich mich auch nicht. Der Satz, dass sie mich alleine lassen wollten, ließ mich nicht los. Ich kannte sie nicht, ich kannte sie kaum, kannte sie nur oberflächlich, aber ich wollte nicht alleine sein, sie sollten bleiben.
“Tom, ich... ich kann sie nicht alleine lassen. Vielleicht sollten Gustav und Georg fahren, sie können eh nichts machen, aber bitte... bleib bei mir... ich... ich...”, stotterte er plötzlich. 
“Du brauchst mir nichts zu erklären, ich verstehe schon...”, flüstert er. “Ich gehe den beiden bescheid sagen.”
Ich spürte, wie Tom aufstand und nach meiner Hand griff. Ich sah nicht hoch, erwiderte nur seinem Druck und spürte kurz darauf, wie er mir über den Arm strich. 
“Bill... Bill... es...”, versuchte ich Worte zu finden, was mir jedoch nicht gelang. Ich fand keine Worte für diesen höllischen Schmerz. Meine Stimme zitterte und brach nach ein paar Wörtern wieder ab, weil ich in einem Schluchzen verfiel. 
“Pscht...”, sprach er sanft auf mich ein, stützte meinen Kopf mit seiner Hand, legte seinen Arm beschützend um mich und wog mich leicht hin und her. 
Er war da. Er war einfach nur da. Jetzt, in dieser Situation, in der ich mich eigentlich so alleine fühlen musste, blieb er bei mir. Ihn schickte der Himmel. Er zeigte mir, dass er mich nicht alleine ließ, indem er einfach neben mir saß, mich im Arm hielt und beruhigend hin und her wog. Er musste kein Wort sagen, nicht ein einziges, denn diese Umarmung, dieses Festhalten, half mir viel mehr, als wenn er mir tausende Wörter sagen würde.
Als ich Ewigkeiten - so kam es mir zumindest vor - in seinen Armen lag und er mich sanft hin und her wog, beruhigte ich mich etwas. Meine Gedanken schweiften immer noch zu Beccy, über die Zeiten damals und heute. Über alles Gemeinsame, was wir erlebt haben. 
Hier und da verließ noch ein Schluchzen meinen Körper und die Augen waren mit Tränen gefüllt. Immer noch konnte ich nicht fassen, was gerade geschehen war. Noch immer konnte ich nicht glauben, dass ich alleine sein sollte...
“Ich... ich will nicht.... all-allein sein...”, schluchzte ich in Bills Armen.
“Ich... ich lass dich nicht allein, Lynn.”, hauchte er mir in mein blondes Haar.

Diagnose Blutkrebs - Dein letzter Wunsch veränderte mein LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt