Ich saß noch eine ganze Weile draußen in der kühlen Mittagsluft. Der Wind wehte mir um die Ohren und ließ mich immer wieder kurz aufschaudern. Mein Körper war von einer Gänsehaut übersehen.
Als ich mich beruhigt hatte, beschloss ich wieder reinzugehen. Ich fand es plötzlich auch unhöflich, die Jungs mit Beccy allein zu lassen. Schließlich hatten sie sich drauf eingestellt, dass ich dabei war. Was, wenn es Beccy plötzlich schlechter ging?
Mit dem Gedanken sprang ich schon nahezu auf und ging wieder rein. Auf der Besuchertoilette wischte ich mir noch schnell meine verlaufene Schminke unter den Augen und von der Wange, setzte ein Lächeln auf und ging zurück ins Zimmer. Dass ich Bill von meinem Lächeln nicht überzeugen konnte, war mir klar, aber wenigstens bei den anderen dreien und Beccy wollte ich es schaffen.
"So, wieder da.", lächelte ich, als ich das Zimmer betrat und die Tür hinter mir schloss.
Die Fünf lachten ungemein laut, anscheinend gab es ziemliche lustige Geschichten, die sie sich erzählten. Es machte mich glücklich. Schnell setzte ich mich wieder neben meine Schwester ans Bett und strich ihr über ihren kahlen Kopf.
"Wo warst du so lange?", sie sah mich mit ihren großen blauen Augen an.
"Hat Bill dir denn gar nicht ausgerichtet, dass ich noch mit Anna reden musste?", mein Blick schweifte zu ihm, er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln.
"Doch, aber trotzdem... was wollte Anna denn?", und jetzt ging wahrscheinlich das Gefrage los. Schnell überlegte ich mir etwas.
"Ach, wir wollten uns mal auf einen Kaffee nach ihrem Dienst treffen und ein bisschen quatschen, weißt du. Und sie hatte noch ein paar Unterlagen für mich, die ich unterschreiben musste.", log ich sie an. Sie sollte nicht wissen, dass ich traurig war. Sollte nicht wissen, dass ich keine Kraft mehr besaß.
Wir saßen noch lange bei Beccy am Bett - es musste zwei Uhr rum sein - und unterhielten uns viel. Im Gegensatz zu den ersten Stunden spannte ich mich nun auch im Gespräch ein. Wir lachten viel und hatten unseren Spaß. Doch dann merkte ich, dass meine Schwester müde wurde. Sie hatte sich in ihre Decke gekuschelt und gesagt, die Jungs sollten etwas von sich erzählen. Sie war neugierig, aber das nahm ihr hier keiner übel.
Ohne Wenn und Aber taten die Jungs das, was Beccy von ihnen verlangte. Ich wusste, dass sie nach ein paar Minuten sofort einschlafen würde. Als die Jungs erzählten, lauschte auch ich ihnen und strich - mein Kopf voller Gedanken - ununterbrochen über Beccy’s Handfläche. Sie war niedlich, wenn sie ihre Augen vor Müdigkeit verdrehte und darauf pochte, sie aufhalten zu können.
Doch nach einer Weile verlor sie den Kampf gegen die Müdigkeit und ihr Atem wurde gleichmäßig und langsam. Ihr Kuscheltier, welches ich ihr vor langer Zeit geschenkt hatte, umklammerte sie mit der einen Hand; mit der anderen umklammerte sie meinen Arm.
"Sie schläft...", flüsterte ich lächelnd in die Richtung der Jungs.
"Dann... gehen wir mal besser raus.", lächelte Gustav zurück. Die vier standen auf und verließen den Raum.
Ich wusste, dass ich heute nicht ewig hier sitzen und ihr beim Schlafen zuschauen konnte, schließlich hatte sie Gäste, um die ich mich kümmern musste.
"Sie schläft jetzt tief und fest. Wo sind die anderen alle hin?", verdutzt sah ich mich um, als Bill allein neben der Zimmertür des Krankenzimmers stand.
"Die sind unten im Van. Sie müssen noch was vorbereiten und ihre Sachen holen.", lächelte er. "Wollen wir ein wenig an die frische Luft?", überging er schnell seine eigene Antwort und lächelte mich herzhaft an.
"Ja... ja, klar. Was müssen die Jungs denn vorbereiten?", fragte ich neugierig. Ja, ich war verdammt neugierig, musste ich zugeben. Aber das war ich schon immer, seitdem ich eigentlich denken konnte. Manchmal hasste ich mich dafür, da es oft Nachteile bringen konnte, doch manchmal hatte es auch schon so seine Vorteile.
"Beccy hat sich gewünscht, dass wir ihr ein wenig was vorspielen. Und wir haben uns gedacht, dass wir das machen, wenn sie wieder wach ist. Die Jungs stimmen ihre Instrumente - beziehungsweise Tom und Georg - und spielen sich ein wenig ein.", erklärte er mir.
Mittlerweile waren wir auf dem Balkon angekommen. Dankend hatte ich von Bill eine Zigarette angenommen, die ich gerade genüsslich rauchte.
Ich fand es mehr als wunderbar von den vier Jungs, dass sie meiner kleinen Schwester einfach alles erfüllten, was sie sich wünschte. Selbstverständlich war das Ganze nämlich sicherlich nicht. Ich wusste gar nicht, wie ich mich da je wieder revanchieren sollte. Schließlich nahmen sie nicht einmal Geld dafür und opferten ihren eigenen Urlaub für ein Mädchen.
"An was denkst du?", riss Bill mich plötzlich aus meinen Gedanken. Verdattert sah ich ihn an, war völlig durcheinander und wusste ehrlich gesagt gar nicht, was ich ihm antworten sollte. Die Wahrheit? Oder sollte ich mir etwas zusammen lügen?
"Ich hab darüber nachgedacht, wie ich mich bei euch revanchieren kann...", gab ich die Wahrheit preis. Man sollte gleich mit offenen Karten spielen, auch wenn ich Bill - und auch seine anderen drei Kollegen - nach diesem Treffen wohl nie wieder sehen würde.
"Für was revanchieren?", leicht zog er seine Augenbrauen zusammen und musterte mich.
"Dass... dass ihr hier seid. Dass ihr das alles für Beccy tut. Ich meine, ihr opfert eure Freizeit, euren Urlaub für sie.", erklärte ich ihm.
"Ach, Lynn. Das ist doch selbstverständlich. Ich würde jeden einzelnen Tag dafür opfern. Es ist ihr letzter und sehnlichster Wunsch und sie soll ihn erfüllt bekommen."
"Nein, Bill. Das ist auf keinen Fall selbstverständlich. Was meinst du, wie viele Kinderträume hier auf dieser Station zerplatzen, weil irgendein Prominenter sich zu fein dafür ist, hier aufzulaufen und einem harmlosen, hilflosen Kind einen Wunsch zu erfüllen.", sagte ich enttäuscht. "Ich bin froh, dass ihr es ihr ermöglicht, wirklich.", lächelte ich ihm entgegen.
Ich war überrascht von mir. Überrascht von mir und dem, was ich preisgab. Ich erzählte Bill einfach das, was ich dachte. Wann hatte ich das gegenüber einem Menschen denn bitte das letzte Mal getan? Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern.
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Diagnose Blutkrebs - Dein letzter Wunsch veränderte mein Leben
Fanfiction[1. Teil der Diagnose-Trilogie.] - "Es ist mein letzter Wunsch, Lynn. Ich will die Vier einmal treffen, bitte...", hauchte die 11-jährige ihrer großen Schwester entgegen. Meine Schwester war seit 11 Jahren mein Ein und Alles und ich wich ihr nie län...