» Erinnerungen.

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“Wie geht’s ihr?”, flüsterte plötzlich eine Stimme, welche mich aus meinem Schlaf riss. Ich muss auf dem Sofa in Bills Armen eingeschlafen sein. Ich ließ meine Augen geschlossen, war viel zu kaputt und träge, um sie zu öffnen. Ich wollte sie auch nicht öffnen, wollte abwarten, was kam. Wollte am liebsten gar nicht mehr aufwachen. Wieder waren da die Gedanken an Beccy. Ich kämpfte mit mir, meine Tränen zu unterdrücken. Ich presste unauffällig meine Lippen aufeinander, welche anfingen zu beben. 
“Sie ist eingeschlafen...”, hauchte Bill in die Stille. 
“Anna hat gefragt, ob sie Beccy noch einmal sehen möchte...”, hauchte eine männliche Stimme - es war Tom. 
“Sie hat sich gerade beruhigt... sie... ch weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.”, stotterte Bill. “Kann sie das nicht wann anders?”
“Ich rede mit ihr. Weck du erstmal Lynn, es wäre vielleicht auch besser, wenn sie nicht mehr länger in dieser Umgebung bleibt. Das erinnert sie viel zu sehr an Be-Beccy...”, ich nahm wahr, dass auch Tom es schwer fiel, dieses Mädchen gehen zu lassen, welches - während sie ihre Lieder spielten - vor ihren Augen im Sterben lag. 
“He... Lynn...”, ich spürte, wie Bill sanft über meine Wange strich. “Aufwachen.", langsam öffnete ich widerwillig meine Augen.
“Hm..?”, brummte ich und setzte mich ein wenig auf, um ihn besser ansehen zu können. Zu gucken, wo ich überhaupt war. Vorhin... hatte ich das Ganze nicht so mitbekommen, wie.. .ich es eigentlich sollte.
“Wir wollen los.”, sofort weiteten sich meine Augen und sie füllten sich mit Tränen. Panik stieg in mir auf, dass er mich alleine lassen würde.
“Ich lass dich nicht alleine, keine Angst.”, beruhigte er mich und zog mich in seine Arme. Es tat so unglaublich gut mit der Trauer nicht allein zu sein, sondern zu wissen, dass er da war und mir den Rücken stärkte. 
“Willst... willst du mit zu uns kommen, oder... oder soll ich mit zu dir?”, fragte er unsicher. Ich wusste nicht, was ich wollte, was besser für mich war. In der Wohnung hingen tausende von Erinnerungen an Beccy. Überall an den Wänden hingen Bilder von uns, von ihr oder von Mom und ihr. Ich konnte das Ganze nicht, ich wusste, dass ich nicht ruhig schlafen konnte, wusste, dass ich verrückt werden würde.
“Wenn... wenn es den anderen nichts aus macht, dann... dann mit zu euch?”, stotterte ich schüchtern und sah auf den Boden.
“Wenn, dann müssten wir Tom nur fragen. Aber er hat es vorgeschlagen - es macht ihm ganz und gar nichts aus.”, beteuerte Bill und hob mit seinem Finger mein Kinn an. 
“Komm.”, er stand langsam auf und hielt mir seine Hand hin, welche ich lächelnd und dankend annahm. Ich wusste nicht, wie ich das alles hier jemals wieder gut machen konnte. Ich konnte nichts tun, um mich für das alles, für die restlichen Stunden, für den ganzen Tag bei ihnen und vor allem bei Bill zu bedanken. 
Als ich aufstand, wankte ich kurz zur Seite, war viel zu schwach, um alleine auf den Beinen zu stehen. Sofort legte Bill eine Hand an meine Hüfte und zog mich wieder auf die richtige Position zurück. 
Aufmunternd lächelnd gingen wir nebeneinander aus dem Raum heraus. Ich wusste, dass ich gleich an Beccy’s altem Zimmer vorbei musste, was mich jetzt schon aufschaudern ließ. 
Es trieb mir zum hundertsten Male an diesem Tage die Tränen in die Augen, als ich neben der Zimmertür anhielt. Neben der Tür war ein kleines Fenster, durch welches man hindurch sehen konnte. Ich stellte mich vor das Fenster und sah hinein. Es war leer. Ihre ganzen Spielsachen, ihre Kuscheltiere und Klamotten waren aus dem Raum. Es sah wie leergefegt aus. Wo war sie jetzt? Was stellten sie jetzt mir ihr an? 
Ich ballte meine Hände wieder einmal zu Fäusten, war viel zu wütend auf die Welt, um irgendetwas anderes zu tun. Meine Stirn drückte ich gegen die kalte Scheibe, schlug mit meinen Fäusten neben meinem Kopf auf die Scheibe ein. 
“Verdammt... wieso...?”, schluchzte ich auf.
Ich wusste, dass es dauern würde, bis ich es verstehen und akzeptieren würde.

Diagnose Blutkrebs - Dein letzter Wunsch veränderte mein LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt