Kapitel 6

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Knapp 20 Minuten später befand ich mich auf einer Bank vor dem Krankenhaus und schaute den Autos zu, die in den Parkplatz bogen. Ich beobachte jedes Auto und dessen Fahrer ganz genau, um zu wissen, in welchem mein Bruder saß. Allerdings blieb diese Methode die ersten Minuten ohne Erfolg, denn ich fand Nicolas in keinem wieder.

Ich kuschelte mich etwas mehr in meine Jacke, als sich eine weitere Person neben mich setzte. Ein Blick nach rechts verriet mir, dass es ein Mädchen war, die auch eine Patientin hier sein musste. Ich schätze sie auf 14. Ein Gips versteckte ihr komplettes linkes Bein. Sah ziemlich schmerzhaft aus.

Es dauerte auch nicht lange, bis sie meinen Blick bemerkte. ''Es tut nur halb so weh, wie es vielleicht aussieht.'', lächelte sie, ehe sich ihre Augen in eine nachdenkliche Stimmung verwandelten. ''Sag mal, kenn' ich dich irgendwo her?''

So eine Frage hatte mir gerade noch gefehlt. Was sollte ich jetzt bitte tun? Nervös knabberte ich an meiner Unterlippe. ''I-Ich weiß nicht? Kann sein?'' Gott, wenn man mich anschaute oder anhörte, konnte man auch lesen wie in einem Buch.

Das Mädchen legte ihren Kopf leicht schief. Ich sah, wie sie ansetzte einen weiteren Satz zu formen, ehe sie ihren Mund schloss und auf etwas vor mir schaute. Neugierig wanderte mein Blick nach vorne, doch bevor ich noch etwas erkennen konnte, wurde ich von der Bank gerissen und in eine lange Umarmung gezogen.

''Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Ich stand noch etwas im Stau.'' Beim Klang dieser Stimme entspannte ich mich etwas, auch wenn mir die Umarmung trotzdem noch etwas zu viel war.

''Ach du bist's.'', lächelte ich. Krass, das mein Zwillingsbruder so nett zu mir war. Hörte man nicht immer, dass Zwillinge – beziehungsweise allgemein Geschwister - sich oft bis ins bodenlose stritten?

''Du wolltest mal was anderes, als dieses Krankenhaus sehen, richtig?'' Er grinste mich verschwörerisch an und wartete gar nicht auf meine Antwort. ''Ich habe da schon genau die richtige Idee.'', fuhr er fort und griff nach meinem Arm. Bevor er mich jedoch wegziehen konnte, drehte ich mich noch einmal zu dem Mädchen und verabschiedete mich von ihr. Sie tat mir schon etwas leid, vor allem, weil ich ihr nicht sagen konnte, woher sie mich kannte. Als ich sie aber lächeln sah, verschwand mein schlechtes Gewissen wieder. Sie würde es schon nicht als schlimm empfinden.

Ich konzentrierte mich wieder auf meinen Bruder, der scheinbar irgendwas vorhatte, mir aber nichts verraten wollte. ''Och komm schon, das ist nicht fair. Ich will wenigstens wissen, wohin es geht.'', schmollte ich und dackelte meinem Bruder hinterher, der mittlerweile schon an seinem Auto stand und auf mich wartete.

''Du wolltest doch, dass ich dich ablenke, dann hilft dir so 'n kleines Ratespiel doch sicherlich auch.'', lachte er und stieg letztendlich ein.

Ich rannte währenddessen auf die Beifahrerseite und ließ mich auf den Sitz fallen. Neugierig beobachtete ich den ganzen Innenraum des Autos. Eigentlich nichts besonderes, würde ich sagen. Ich fand keine besonderen Merkmale. Erst als ich auf die Rücksitze schaute, viel mir ein pinker Kindersitz auf. Ich zog eine Augenbraue hoch und schaute zu meinem Bruder, der bemerkt hatte, dass ich sein Auto genauestens untersuchte.

''Hast du 'n Kind?!''

Noch mehr Verwirrung kam in mir auf, als mein Bruder in lautes Gelächter ausbrach. ''Nein, gott, ich bin 18, Hannah.'' Immer noch lachend griff er nach seinem Gurt und schnallte sich an, was ich ihm dann gleich tat.

''Aber warum steht dann dort ein Kindersitz?'', fragte ich und verschränkte meine Arme. Ich war etwas eingeschnappt, weil meine Überlegung doch gar nicht so falsch war, er mich aber trotzdem auslacht. Es steht doch nicht umsonst ein Kindersitz im Auto.

''Mein Patenkind, Miley, sollte heute eigentlich zu mir kommen.'' Grinsend schaute er wieder zu mir, ehe er den Motor startete und von dem Parkplatz runter fuhr. ''Aber weil ich ja ein netter Bruder bin, hab ich abgesagt, um dich etwas abzulenken.''

''Das hättest du nicht machen brauchen, wirklich nicht. Ich wäre auch alleine irgendwo hin gekommen.'' Ich hatte schon wieder ein schlechtes Gewissen. Er musste doch wegen mir nicht alles absagen. Sein Patenkind hatte sich doch bestimmt auch schon auf den Tag mit ihm gefreut..

''Hannah, du bist meine Schwester. Wenn ich dir helfen kann, dann tu ich das auch gerne. Ich kann das mit Miley immer noch nachholen. Für sie bin ich eh schon ein Held, weil ich mit ihr ins Disneyland wollte, dann wird ihr die Verschiebung auch nichts ausmachen.''

Also hatte sie sich schon riesig darauf gefreut. Gut, den Tag werde ich ihr nicht kaputt machen. Miley soll einen schönen Tag haben. Meinetwegen auch in diesem Disneyland, was sie so toll fand und worunter ich mir nichts vorstellen konnte.

''Nein, Nicolas, du fährst jetzt zu Miley und hast einen schönen Tag mit ihr. Ich will nicht für traurige Kinderaugen verantwortlich sein.''

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