Kapitel 10

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Sofort löste ich mich wieder von ihm. Ich konnte das nicht tun. Ohne ihm wieder in die Augen zu schauen drehte ich mich herum und drückte erneut auf den roten Knopf, der einige Minuten vorher den Fahrstuhl zum stoppen gebracht hatte. Langsam setzte sich der Fahrstuhl wieder in Bewegung.

''Bringst du mich zurück ins Krankenhaus?'', fragte ich und schaute auf den grauen Teppichboden. Ich hätte das nicht tun sollen. Mein schlechtes Gewissen war kaum auszuhalten.

''Klar, gern.'', antwortete er, als sich die Türen des Aufzugs öffneten.

Knapp 10 Minuten später fuhr er gerade die Einfahrt des Parkplatzes rauf. Ich hatte vor sofort meinen Bruder anzurufen, wenn ich in meinem Zimmer war. Tim hatte mir angeboten, dass ich sein Handy benutzen konnte, aber das wollte ich nicht. Ich wollte kein Risiko eingehen. Mein Bruder könnte ja die Nummer von Tim kennen und ich hatte vor, das Erlebnis keinem zu erzählen. Zumindest nicht so lang, bis ich alle Erinnerungen beisammen hatte.

''Soll ich dich noch hinbringen?'', fragte Tim, als ich schon fast aus der Tür draußen war.

''Nein, lass nur. Bis in mein Zimmer schaffte ich es auch alleine.'' Ich lächelte ihn kurz an, ehe ich die Tür zufallen ließ.

Ich zog meine Jacke wieder zu, da der Wind nur noch kälter geworden war. Etwas wärmeres Wetter könnte auch nicht schaden. Nervös begab ich mich auf den Weg ins Krankenhaus, doch ich kam nicht weit, denn ich wurde von jemandem abgefangen. Von jemandem, der mir nur zu bekannt war.

''Hannah, da bist du ja.'' Ich wurde von meinem Bruder umarmt. Ich konnte über seiner Schulter hinweg sehen und sah, dass dort ebenfalls Chris stand und wartete. ''Wie hast du wieder hier hergefunden?'' Er ließ mich los und musterte mich von oben bis unten.

''Keine Ahnung. Ich war plötzlich in der Stadt und hab dort jemanden gefragt, ob er mir sagen könnte, wie ich wieder hier her komme.'', log ich und dieses Mal klang alles ziemlich gut. So, als würde ich die Wahrheit sagen.

''Und wer war dieser jemand?'', fragte nun Chris, der sich mittlerweile zu uns gesellt hatte.

''Weiß ich auch nicht.'' Ich zuckte mit den Schultern. ''Hab' auch nicht wirklich nach seinem Namen gefragt.''

''Gott, Hannah, du kannst doch nicht einfach zu fremden Leuten ins Auto steigen, wer weiß, was die für Hintergedanken haben.'', meinte nun wieder Nicolas.

''Daran hab ich gar nicht gedacht... Ich war einfach zu sehr damit beschäftigt, dass ich mich anscheinend doch noch an etwas erinnern konnte. Der Weg in die Stadt. Ich meine, ich wusste nicht wo ich lang gehen musste, trotzdem kam ich dort an. Oh mein Gott, es wäre so wundervoll, wenn alles langsam wieder kommen würde.''

''Alle Wege führen nach Rom.'', meinte Chris trocken und zerstörte damit meine Illusion. Krass, was war denn mit ihm los? Ich schaute ihn verwirrt an und merkte irgendwie eine gewisse Anspannung. War das, weil ich vorhin so abgehauen war? Bitte nicht, ich wollte keinen Stress haben, vor allem nicht, wenn ich morgen doch zu ihm ging.

Nicolas warf Chris einen Blick zu, woraufhin Chris entschuldigend die Arme in die Luft warf und irgendwas murmelte, was ich nicht verstehen konnte. Chris richtete seine Augen wieder auf mich. ''Ich soll dir von Angie sagen, dass es ihr leid tut. Sie war nur so froh, dass sie dich gesehen hat und hat dabei vergessen, dass es dir noch nicht so gut geht.'', erklärte er mir. Mehr halbherzig und beiläufig. Irgendwas ging Chris gewaltig gegen den Strich. Aber was?

''Ja, ist nicht schlimm, ich glaube ich wäre auch so, wenn jemand in meinem Umfeld das selbe hätte, wie ich jetzt.'', meinte ich. Es tat mir wirklich leid, dass ich so reagiert hatte. Angie war mir richtig sympathisch, aber es war wohl wirklich alles zu viel. ''Würdet ihr es mir übel nehmen, wenn ich mich für den Rest des Tages auf mein Zimmer verkrieche? Ich muss die Koffer auch noch packen.''

''Wann kannst du morgen hier raus?'', fragte Chris.

''Morgen früh irgendwann. Sie haben mir keine Uhrzeit gesagt... Ich bekomme noch meine Wertsachen und dann kann ich gehen.'', antwortete ich, allerdings war ich am überlegen, ob ich nicht jetzt schon versuchen sollte, meine Wertsachen wieder zu bekommen. Je früher ich aus dem Krankenhaus kam, desto besser war es doch für mich.

''Dann frag ich mal so: Wann bekommst du immer Frühstück?''

''Gegen halb acht, manchmal auch etwas früher oder später, warum?''

''Gut, ich bin dann so gegen acht da. Vielleicht kann ich dich dann ja schon direkt mitnehmen.'', antwortete er ohne seine Mimik zu verändern. Hilfesuchend schaute ich zu meinem Bruder, vielleicht wusste er ja, was plötzlich in Chris gefahren war, allerdings zuckte er nur mit den Schulten.

Mein Blick wanderte wieder zu Chris. Ich bestätigte seine Aussage mit einem Nicken. ''Na dann, bis morgen.'' Ich lächelte ihn leicht an, bekam aber keins zurück. Nein, so hatte ich ihn die letzten Tage nicht erlebt. Irgendwas hab ich getan, dass ihn so kalt machte. Oder hatte das überhaupt gar nichts mit mir zu tun?

Ohne mir meine Verwunderung weiter anmerken zu lassen drehte ich mich zu meinem Bruder und umarmte ihn zur Verabschiedung. Er war der einzige, der mir in den letzten Tagen entgegen gebracht hatte, dass ich im Vertrauen konnte, außer Tim vielleicht noch. Die Begegnung mit ihm ging mir auch nicht mehr aus meinem Kopf. Irgendwie hab ich die Zeit mit ihm genossen, trotzdem wirkte das alles so falsch. Ich durfte doch nicht diese Gefühle haben, oder? Wir waren immerhin seit 2 Jahren nicht mehr zusammen.

In meinem Zimmer angekommen hing ich meine Jacke an den Haken und begann damit meinen Koffer fertig zu packen. Allerdings verfolgten mich immer wieder Gedanken an Tim. Unordentlich warf ich die Kleidung in meinen Koffer und ging in mein Bad, wo ich mir erst einmal kaltes Wasser in mein Gesicht machte. Sofort durchströmte mein Körper neue Energie, die ich gebrauchen konnte. Ich wollte nicht völlig ausgepowert aussehen, auch wenn ich weiß, dass niemand mehr zu Besuch kommen wird. Einfach nur für mich, als kleine Stütze. Als Hoffnung, dass sich alles wieder hinbiegen wird. Ich musste doch stark bleiben, sonst würde daraus nie etwas werden.

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