Kapitel 4

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"Perhaps they are not stars, but rather openings in heaven where the love of our lost ones pours through and shines down upon us to let us know they are happy."

~Eskimo Proverb

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Die erste Ferienwoche verging wie im Flug. Ich verbrachte meine Zeit hauptsächlich mit lernen, was meinen Eltern gut gefiel. Gegen Abend traf ich dann oft meine beste Freundin Sina. Zusammen schauten wir irgendwelche Liebesschnulzen und assen Süssigkeiten. Die Jungs hatte ich bis jetzt noch nicht oft gesehen. Simon einige male im Garten und Jack am Fenster. Ich nahm an, dass sie viel mit dem Einräumen des Hauses beschäftigt waren. Es war bereits achtzehn Uhr, als ich mich von meinen Eltern verabschiedete und aus dem Haus ging. Mit einer gewissen Vorahnung liess ich mein Blick die Einfahrt herunter schweifen. Sina war noch nicht da. Sie war bereits achtzehn und hatte ihren Führerschein. Ich musste zugeben, dass es wirklich nützlich war, wenn man jemand hatte, der bereits Auto fahren konnte. Heute zum Beispiel hatten wir vor, gemeinsam in die Stadt zu gehen.

Leicht genervt schaute ich auf meine Armbanduhr und stellte fest, dass sie bereits zehn Minuten zu spät war. Ich liess mich auf die Stufen der Eingangstreppe fallen und wartete. Bei Sina konnte es noch eine Weile dauern. Sie hatte immer so viel zu tun, dass sie von einem Termin zum nächsten rannte. Deswegen nahm ich ihr die Verspätung auch nicht wirklich übel. Wahrscheinlich wurde sie noch bei der Arbeit aufgehalten. Nach einer halben Stunde piepte mein Telefon. Ich wusste, dass sie mir mitteilte, dass sie es heute nicht mehr schaffte. Enttäuscht stand ich auf und wollte zurück ins Haus gehen, als jemand meinen Namen rief. Als ich mich umdrehte, konnte ich jedoch niemand sehen. Mit einem mulmigen Gefühl rief ich: "Wer ist das?" In der nächsten Sekunde tauchte Simon aus dem Nichts auf und stellte sich vor mich hin. Im halb dunkeln sah er irgendwie düster und gefährlich aus. "Hey Julia. Hast du heute Abend kurz Zeit? Ich möchte dir etwas zeigen", seine Stimme klang jedoch überhaupt nicht furchteinflössend, eher bedrückt. Auch war sie zu hoch, um gefährlich rüberzukommen. "Klar. Also eigentlich hatte ich etwas vor, aber das hat sich nun erledigt." Simon atmete erleichtert aus und nahm meine Hand. "Komm mit." Als wir an einer der Laternen in der Einfahrt vorbeiliefen, konnte ich einen Blick auf sein erhelltes Gesicht erhaschen. Seine Augen und Wangen waren gerötet. Abrupt blieb ich stehen.

"Simon. Dreh dich zu mir.", befahl ich ihm. Langsam drehte er sich mir entgegen und schaute mich an. Seine Augen waren tatsächlich rot und geschwollen. Sie sahen aus, als hätte er lange geweint. Er sah so verletzlich aus. Verständnislos legte ich ihm meine Hände auf die Wangen. "Was ist denn los, Simon? Hast du etwa geweint?" Ich schaute ihm tief in die Augen. Ich wollte ihm das Gefühl geben, dass er mir vertrauen konnte. Genauso wie er mir bei unserem Spiel gezeigt hatte, dass ich das bei ihm konnte. Doch er war noch nicht so weit. "Tut mir leid, Julia, aber ich möchte nicht darüber reden. Okay? Ich... Ich möchte dir mein Lieblings-Ort zeigen. Komm mit."

"Du hast nach einer Woche hier bereits einen Lieblings-Ort?" Ich war wirklich beeindruckt. Ich lebte schon siebzehn Jahre hier und der einzige Ort, der mir wirklich etwas bedeutete, war mein Zimmer. Er nickte, nahm mich wieder an der Hand und führte mich den Hügel hinunter Richtung Stadt. Auf halbem Weg bogen wir in die Dunkelheit ab. "Wo gehen wir denn hin?"

"Schon bald wirst du es sehen." Schweigend liefen wir nebeneinander her. Seine Hand befand sich immer noch fest in meiner. Es störte mich nicht. Es war angenehm, und machte mir Mut. Plötzlich begriff ich, dass wir in einem Feld stehen mussten. Ich spürte die Maishalme, die fast bis zu meinem Bauch hochragten. "Das Maisfeld?" Ich war wirklich verwundert. Was wollte er denn hier? Doch er antwortete mir nicht, sondern zog mich weiter. Immer tiefer hinein, bis wir schliesslich auf einer runtergedrückten Fläche standen. Ich drehte mich einmal im Kreis. Schwach erkannte ich, dass wir mitten im Feld sein mussten. Eigentlich müsste ich Angst haben. Oder zumindest ein mulmiges Gefühl im Bauch verspüren. Das einzige Licht, das wir hatten, gab uns der Mond. Wenn ich jetzt nach Hilfe schreien würde, würde mich hier draussen niemand hören. Doch merkwürdigerweise war ich ganz ruhig. Ich wusste nicht, wie Simon es schaffte, mir solche Sicherheit zu geben.

"Setz dich." Erst jetzt fiel mir auf, dass eine Decke auf dem Boden lag. "Hast du die hierher gebracht?" "Ja. Ich bin oft hier, weisst du. Leg dich hin." Seine Stimme war nicht mehr so belegt, wie noch zu Beginn. Ich folgte seiner Anweisung und legte mich auf die weiche Decke. Liebevoll deckte er mich mit einer Zweiten zu und kuschelte sich dann neben mich. Da mir ein wenig kalt war, rutschte ich ein wenig näher zu ihm. Als ob ich ihm damit Bestätigung gegeben hätte, legte er einen Arm um mich. "Siehst du, wie klar diese Nacht ist? Man kann alle Sterne sehen." Ich blickte hoch in den Himmel. Und tatsächlich. Es war wunderschön. "Schau! Ich sehe eine Sternschnuppe", ich freute mich in diesem Moment riesig darüber. Er lächelte mich kurz an und zeigte mir dann einige Sternbilder. Sie sahen alle wunderschön aus.

Irgendwann lagen wir einfach nur da und schauten beide nach oben. Wir genossen die absolute Stille um uns herum. Simon durchbrach als Erster die Stille. "Meine Grossmutter sagte mir immer, dass wenn man stirbt, dass man dann zu einem Stern wird und immer auf die Welt herunterblicken kann. Dass man so immer noch bei den Leuten sein kann, die man liebt. Ich glaubte immer daran. Auch jetzt noch. Dass sie jetzt auf uns herabschaut und bei uns ist." Bei diesen Worten klang er traurig und verletzt. Es wunderte mich, dass er mir das erzählte. "Das hat sie schön gesagt. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, denn ich kenne niemanden, der gestorben ist und mir etwas bedeutet hatte. Aber es klinkt wirklich schön."

Zusammen schauten wir wieder in den Himmel, der voller Sternen war. "Vermisst du sie?", fragte ich ihn nachdenklich. "Ja", er klang traurig. "Sehr sogar. Sie war immer für mich da, wenn es mir nicht gut ging, weisst du? Meine Eltern kamen nicht mit meinen Stimmungen klar. Dann ging ich immer zu ihr." Ich hätte gerne nachgefragt, was er mit Stimmungen meinte. Aber ich traute mich nicht. Da ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte, nahm ich seine Hand und drückte sie leicht. "Danke." Mein Blick war auf Simon gerichtet. "Wofür?", er klang verwundert. "Dass du mir diesen Ort gezeigt hast. Und dass du mir mehr über dich erzählt hast." Ich nahm meinen Mut zusammen uns sprach aus, was mir durch den Kopf ging. Egal, wie kitschig es klang. "Weisst du Simon. Es gibt immer ein Stern, der heller als alle andere scheint. Heute bist du dieser Stern für mich." Bei meinen Worten musste er lächeln, was mich schmunzeln liess.

Zusammen schauten wir noch eine Weile zu den Sternen herauf. Jeder in seine eigenen Gedanken versunken.

Niemals DeinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt