Kapitel 6

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"Don't be afraid to tell the truth but be afraid to hide the reality."

                             ~Ishita Shaw

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Am nächsten Morgen wachte ich mit einem Lächeln auf den Lippen auf. Ich ging den gestrigen Abend nochmals im Kopf durch. Wie hatte ich es nur verdient, mit einem so attraktiven, witzigen und sympathischen Jungen Zeit verbringen zu dürfen? Mein Lächeln erlosch, als meine Mutter in mein Zimmer stürmte. "Junge Dame. Weisst du eigentlich, wie spät es ist? Richtig, es ist bereits zwölf Uhr. Und wann habe ich dir gesagt, sollst du wach sein?", böse funkelte sie mich an. "Oh Mutter. Ich hatte gestern noch lange Gesellschaft. Nur darum habe ich so lange geschlafen.", versuchte ich mich zu verteidigen. Aber ich wusste, dass ich jetzt schon verloren hatte. Ich verlor immer gegen meine Mutter. Gut, gegen meinen Vater auch. "Da bist du selbst schuld daran. Ist deine Entscheidung, ob du abends lange aufbleibst, aber ich erwarte von dir, dass du spätestens um acht Uhr zu lernen beginnst. Verstanden?", sie lief zu meinem Pult und schaute auf meine Blätter. "Hast du überhaupt schon begonnen?"

"Ja Mom", ich stand auf und schlenderte ohne ein weiters Wort ins Bad. Warum musste sie immer so streng sein? Hatte sie sich schon einmal überlegt, dass ich gar nicht lernen wollte? Zumindest in den Ferien nicht. Wer tat das denn bitte schon? Als ich wieder rauskam, stand meine Mutter immer noch da. "Zieh dich an und setz dich hin.", befahl sie mir in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Als ich schlussendlich vor meinen Blättern sass, schaute sie mir noch kurz beim Lernen zu, bevor sie mein Zimmer mit meinem Handy verliess. Das durfte doch nicht wahr sein! Was, wenn Simon geschrieben hatte? Ich war frustriert und wütend auf meine Mutter. Sie wusste genau, wie sie es schaffte, dass ich mies gelaunt war.

Meine Eltern hatten beide Wirtschaft studiert. In ihrem Studium hatten sie sich dann kennengelernt. Und ich musste zugeben, sie passten wirklich gut zusammen. Beide wahren gross und schlank. Meine Mutter hatte die gleichen blauen Augen und blonden Haare wie ich. Sie war eine echte Schönheit. Mein Vater hatte dunkelblonde Haare und braun grüne Augen. Wenn die beiden nebeneinander standen, gaben sie ein wirklich lustiges Bild von sich. Mein Vater war zwar genauso streng wie Mom, war aber um einiges verständnisvoller als sie. Wenn ich ein Problem hatte, konnte ich immer zu ihm gehen und er half mir. Ausser beim Thema lernen natürlich. Da waren sie leider gleicher Meinung.

Ich ging auf den Balkon raus und setzte mich in die Mittagssonne. Mein Blick schweifte hinüber zum Nachbarhaus. Das Fenster von Jack stand offen. Obwohl ich ihn nicht sah, begann mein Herz beim Gedanken an ihn schneller zu schlagen. Das musste so schnell wie möglich aufhören! Und dann sah ich ihn, er stand mit dem Rücken zu mir vor dem Fenster. "Jack, lass mich in Ruhe!", hörte ich Simon schreien. So kannte ich ihn gar nicht. Und warum schrie er Jack an, er solle ihn in Ruhe lassen, wenn er in seinem Zimmer stand? Neugierig beugte ich mich ein wenig vor, um die beiden besser zu sehen und zu hören.

"Nein, ich lasse dich nicht in Ruhe. Du musst es ihr sagen. Sie hat ein Recht darauf."
"Ich sage es ihr, wenn wir so weit sind." Simon klang frustriert.
"Ach ja? Was heisst denn das? Wann ist man denn bitte so weit, um der Freundin die verdammte Wahrheit zu sagen? Nachdem man sie geküsst hatte? Mit ihr geschlafen hatte? Oder bereits mit ihr zusammenwohnt und geheiratet hat?", Jack klang nun richtig aufgebracht. Es war offensichtlich, dass er Simon nicht verstehen konnte. Aber was sollte er wem sagen? Bin etwa ich mit seiner Freundin gemeint? Ich wusste gar nicht, ob ich indessen seine Freundin war. Ab wann ist man das denn? Nach dem ersten Date, Kuss, Sex?

"Ich möchte sie verdammt noch mal nicht auch noch verlieren. Kapier das doch endlich.", Simon klang inzwischen erschöpft und traurig. Jack drehte sich kopfschüttelnd um.
Bevor ich zurück in mein Zimmer gehen konnte, sah er mich. "Fuck", war alles, was er herausbrachte. Seine Haare standen wild von seinem Kopf ab. Er musste dutzende male hindurchgefahren sein. Er sah so heiss aus.

So schnell ich konnte, stand ich auf und verschwand im Inneren meines Zimmers. Okay, es ging also wirklich um mich. Sonst hätte er wohl kaum geflucht, nicht wahr? Das hiess also, dass Simon mir etwas verschwieg. Nur was? Erschöpft liess ich mich auf den Schreibtischstuhl fallen. Genau rechtzeitig, denn meine Mutter öffnete kurz darauf meine Türe und teilte mir leicht genervt mit, dass Sina auf mich wartete. Ich dankte ihr stumm und ging runter. Tatsächlich, auf dem Parkplatz stand ihr kleiner roter Ford. Als ich einstieg, wurde ich sofort in eine Umarmung geschlossen. "Hey Süsse. Wie geht's?"

"Hm, eigentlich gut. Heute Morgen war einiges los, aber das erzähl ich dir später. Wie sieht's mit dir aus?" Erst da fiel mir auf, dass sie dunkle Ringe unter den Augen hatte. "Nicht sonderlich gut. Aber das ist nicht wichtig. Erzähl mir lieber von eurem Date." Fassungslos sah ich sie an. "Vergiss es. Jetzt erzählst du erstmals, warum es dir nicht gut geht." Als sie mich von der Seite aus musterte, wusste sie, dass ich keinen Widerspruch duldete. "Wenn wir bei mir sind." Da sie nicht sprach, verbrachten wir die Fahrt schweigend. Sina wohnte in einer kleinen WG in der Stadt. Als sie die Tür aufschloss, standen ein Junge und ein Mädchen in der Küche. Wir grüssten die beiden, gingen aber auf direktem Weg in Sinas Zimmer. Es war viel kleiner als meines. Am Boden befand sich ein Palettenbett. Daneben ein kleines Regal und ein Schrank. Das war es eigentlich auch schon. Sie ist der Meinung, dass sie nicht mehr brauchte, da sie sowieso nur zum Schlafen im Zimmer sei. Was ja auch stimmte.

Da sie im Krankenhaus auf der Intensivstation arbeitete und nebenbei oft noch ihre Oma und mich besuchte, war sie immer unterwegs. Ich setzte mich auf das Bett und wartete, bis sie zu erzählen begann. "Ich hatte diese Nacht nicht so viel geschlafen.", sie setzte sich neben mich und vergrub ihren Kopf zwischen ihren angewinkelten Beinen.

"Darcie sie... Also sie war eine Patientin von mir.", sie schluchzte laut auf. "Es tut mir so leid, Sina." Ich nahm sie in meine Arme und drückte sie fest. "Erzähl mir von ihr." Mittlerweile wusste ich, dass es ihr half, über die Patienten zu reden. Darcie war nicht die erst, die sie verlor. Wenn man charmant war, hatte man zwar oft Vorteil, aber wenn man im Krankenhaus arbeitete und einem alle Patienten so ans Herz wuchsen, wie es bei Sina der Fall war, schmerzte es umso mehr, wenn man sie dann verlor.

"Sie.. Sie war ein bisschen wie meine Mutter, weisst du?", aus traurigen Augen blickte sie zu mir rauf. In diesem Moment sah sie wie ein kleines Mädchen aus. "Wir haben uns oft unterhalten. Sie erzählte mir von ihrer Kindheit. Von ihrem ersten Freund und später Mann. Sie wollte alles über mich wissen, also erzählte ich ihr auch von meinem Leben. Auch von Finn." Finn war ihr... ja, was eigentlich? Freund? Ich wusste es nicht genau. Einmal waren sie zusammen und dann trennten sie sich wieder.  "Sie konnte mir immer einen weisen Ratschlag geben. Auf alle Probleme, die ich hatte. Sie.. Sie war so einzigartig. Du würdest mir nicht glauben, was sie in ihrer Jugend alles erlebt hatte, wenn ich es dir erzählen würde." Trotz laufenden Tränen musste sie bei dieser Erinnerung lachen. "Sie war wirklich wunderbar." Abrupt setzte sie sich auf. "Ich darf nicht immer so emotional werden, wenn jemand stirbt. Das ist schliesslich mein Job.", befahl sie sich. "Hey. Du bist doch auch nur ein Mensch. Klar darfst du traurig werden, wenn jemand stirbt." Stumm nickte sie. Nachdem sie sich kurz frisch gemacht hatte, musste ich ihr von meinem Date erzählen. Den Streit zwischen den Brüdern liess ich natürlich auch nicht weg.

"Hm, also ich würde zu Simon hingehen und ihn einfach darauf ansprechen." Nachdenklich blickte sie mich an. "Aber das finde ich irgendwie falsch. Ich sollte ihm doch das Gefühl geben können, dass er mir vertrauen kann. Ich will, dass er es mir selbst sagt." Sina nahm meine Hand und drückte sie. "Verstehe. Dann kannst du nichts anderes tun, als mit ihm Zeit zu verbringen und abzuwarten." Damit stand fest, wie ich nun vorgehen sollte.

Niemals DeinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt