Kapitel 27

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Das Wasser war kalt, doch Liv genoss es trotzdem den Schmutz und das Blut von ihrem Körper abzuwaschen. Gedankenverloren musterte sie die Narben auf ihrer Haut. Sowohl die schlimme Wunde an ihrem Arm, als auch die von Zayn an ihrem Oberschenkel waren zu wulstigen Narben geworden. Sie passten sich an das Muster von Narben an, das ihren Körper zeichnete. Jede hatte ihre eigene Geschichte, auch wenn sich Liv nur an die Entstehung von einem Viertel von ihnen wirklich erinnern konnte. Die Gesichter der Kinder aus den Arenen, gegen die sie gekämpft hatte, verschwammen vor ihren Augen. Viele hatten für die Wunden, die sie ihr zufügten, bezahlen müssen, nicht selten mit ihrem Leben.
Während Liv mit der harten Seife, die am Rand des Beckens lag, ihre Haare bearbeitete, fiel ihr eine weitere dünne Narbe an ihrem Handgelenk auf. Kilian hatte sie ihr zugefügt an dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal gesehen hatten, an dem Tag, wo er noch gedacht hatte, er würde eine gerissene Diebin hinter Schloss und Gitter bringen.
Das was sie in Vasilias getan hatte, war wohl noch das kleinste Vergehen in ihrem bisherigen Leben gewesen und doch hatte Kilian sie nicht auf Abstand gehalten, als er sie morden sah, als er von den kalten Dörfern erfuhr oder als er ihre Mauern zu spüren bekam, die ihn von ihr wegstießen. Liv wusste nicht wieso und sie war sich auch nicht sicher, ob die Antwort auf diese Frage dem, was zwischen ihnen war, gut oder schlecht tun würde.
Helena hatte ihr die Frage gestellt, wieso sie noch bei ihm war und es hatte Livs ganze Überwindung gekostet, um die Worte über die Lippen zu bekommen. Sie waren nur ein Teil der Wahrheit, das wusste sie, doch was der andere Teil war, konnte nicht einmal sie selbst in Worte fassen.
Nachdem der Schmutz von Wochen endlich von ihrem Körper gewaschen war, stieg Liv aus der kleinen blechernen Wanne. Ihr war es bereits jetzt ein Rätsel, wie Kilian in dieses Ding hinein passen sollte. Sie angelte sich ein Handtuch, das sie auf dem kleinen Waschbecken abgelegt hatte und band es um ihren nackten Körper wie einen Schild.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie nicht nach frischer Kleidung gefragt hatte und sie fluchte innerlich. Ihre dunkle Tunika, die zerrissene Hose, ihre Unterwäsche und ihre Stiefel lagen verdreckt in einem Haufen auf dem Boden. Das Schwert und die Dolche hatte sie neben dem Waschbecken an die Wand gelehnt, zusammen mit dem Buch von Lucien, das irgendwie die letzten Tage in ihrem Umhang überlebt hatte.
Während sie mit der einen Hand sicher ging, dass das Handtuch da blieb, wo es war, öffnete sie mit der Anderen vorsichtig die Tür zum Wohnbereich ein kleines Stück. Kilian saß entspannt auf der Eckbank und schaute zu ihr hinüber. Sie öffnete den Mund, um ihn nach Kleidung zu fragen, als er schon mit dem Kopf wortlos auf einen Haufen zu ihren Füßen deutete.
Schnell hob sie das Bündel auf, während Kilian sagte: „Ich habe dir ein paar Sachen von Mutter herausgesucht. Die Hose könnte ein bisschen eng sein und falls das Oberteil nicht passt, habe ich dir noch ein Hemd von mir dazu gelegt."
Er schien sich alle Mühe zu geben seinen Blick auf ihr Gesicht gerichtet zu lassen und um ihn vor dem Scheitern zu bewahren, schloss Liv schnell wieder die Tür hinter sich. Dann trocknete sie ihren Körper ab und zog die Kleidung über. Die Hose war tatsächlich leicht eng, doch das machte es einfacher sie unterhalb in ihre Stiefel zu stopfen. Das Oberteil, das Kilian dabei gelegt hatte, lag ebenfalls eng an und hatte einen ziemlich tiefen Ausschnitt, weshalb Liv sich ohne nachzudenken stattdessen das weiße Hemd überzog. Ihre Waffen verstaute sie nur vorübergehend an ihrem Gürtel, bevor sie ihre dreckige Kleidung vom Boden aufhob und wieder hinaus in den Wohnraum trat.
Kilian erhob sich von der Eckbank, als sie näher kam und ging um den Tisch herum auf sie zu. Mit hochgezogenen Brauen gab Liv ihm das Oberteil von Helena zurück.
„Das hast du doch absichtlich herausgesucht" ,murmelte sie grimmig.
Auf Kilians Lippen erschien ein schelmisches Grinsen, als er leise sagte: „Wenn du dir da so sicher bist, will ich dir nicht widersprechen."
Sie verdrehte die Augen bei seinen Worten, doch auch über ihr Gesicht huschte ein leichtes Lächeln. Dann deutete sie auf den Haufen an Kleidung in ihrer Hand.
„Kann ich das vielleicht irgendwo waschen?" ,fragte sie ihn. Jetzt war Kilian derjenige, dessen Augenbrauen nach oben wanderten.
„Willst du das nicht eher wegschmeißen?" ,fragte er, den Blick auf ihre zerrissene und blutbesudelte Kleidung gerichtet. Sie zuckte mit den Schultern. Die Kleidung war das letzte, was ihr von den kalten Dörfern geblieben war, sogar die Dolche von dort hatte sie bei einem Waffenhändler aus Vasilias austauschen lassen.
Sie deutete an sich herunter, während sie sagte: „Wenn ich diese Sachen behalten darf."
Kilian nickte zustimmend, bevor er auf einen Eimer neben der Küchentheke zeigte. „Kannst sie da rein packen" ,sagte er. Dann nahm er sich ein Bündel Kleidung vom Tisch, das er wohl für sich selbst geholt hatte und verschwand im Bad.
Liv ließ ihre alte Kleidung in den Eimer fallen, bevor sie die Leiter zu Kilians Zimmer hinauf stieg. Der Raum war nicht sehr groß, doch auch nicht so klein wie ihr Zimmer im Gasthaus zur schwarzen Krähe gewesen war. Die Strahlen der warmen Vormittagssonne, die durch ein Fenster hineinfielen, von wo aus man auf den kleinen See blicken konnte, erhellten den hölzernen Boden. Ein Doppelbett mit frischen weißen Laken stand direkt unter dem Fenster und bedeckte den Großteil des Zimmers. An den anderen zwei Wänden hatten eine Kommode und ein kleiner Schreibtisch Platz gefunden. Alles wirkte ordentlich und irgendwie... leer, was kein Wunder war, denn Kilian hatte schließlich die letzten beiden Jahre im Schloss von Vasilias verbracht.
Liv fielen Kilians Waffen auf, die auf dem Schreibtisch lagen und sie legte ihre eigenen und das Buch kurzerhand dazu. Dann zog sie ihre Stiefel aus und setzte sich auf das Bett, um einen besseren Blick aus dem Fenster zu haben. Weit und Breit war bis auf Helena, die in dem kleinen Gemüsegarten arbeitete, keine Menschenseele zu sehen. Nur Wiesen und Wälder erstreckten sich bis zum Horizont. Es war ein friedlicher Ort und Liv konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass man sie hier während der Jagd finden würde.
Erschöpft ließ sie sich zurück auf das Bett fallen. Vielleicht würde sie ja hier mal wirklich durchschlafen können. Liv musste lächeln, als sie oben an der Decke ein Mobile entdeckte. Es bestand aus mehreren Sternen und einem vollen Mond und zwischen ihnen ein weißer Falke, der in den Himmel hinauf flog.
Es war wunderschön und augenblicklich wünschte sich Liv, dass irgendwann mal jemand so etwas für sie gemacht hatte. Eine Mutter, die sie nie gehabt hatte. Ein Vater, den sie nie gehabt hatte. Sie spürte wie Tränen in ihren Augen brannten, doch sie blinzelte sie weg. Es war lange her, dass sie geweint hatte.
„Es ist ein Zeichen der Schwäche!" ,hatte die alte Kriegerin immer gesagt, „Wer weint kann sich nicht mit der Realität abfinden und die Realität kann nicht geändert werden."
Liv atmete tief ein und schloss die Augen. Kurz darauf war sie eingeschlafen.

Ein Knarzen ließ Liv aufschrecken. Im selben Moment hatte sie auch schon einen Dolch in der Hand, den sie vorsichtshalber neben das Bett gelegt hatte, während sie angespannt das Zimmer absuchte.
„Entschuldige. Ich wollte dich nicht wecken" ,hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich.
Sie fuhr herum, immer noch mit dem Dolch in der Hand und saß auf einmal Kilian gegenüber, der spielerisch die Hände erhoben hatte und sie grinsend musterte.
„Du kannst den Dolch weglegen. Ich habe nicht vor dich zu ermorden" ,sagte er leise, während er ihr vorsichtig die scharfe Klinge aus der Hand nahm und sie auf die Fensterbank neben sich legte.
Seine kurzen braunen Haare waren noch nass und standen zerzaust von seinem Kopf ab. Mit seinen haselnussbraunen Augen musterte er sie immer noch ein wenig amüsiert und auch er hatte sich frische Kleidung übergezogen. Liv versuchte nicht auf sein aufgeknöpftes Hemd zu starren, doch sie scheiterte kläglich, was Kilians Grinsen nur noch breiter werden ließ. Beleidigt ließ sie sich zurück in die Laken fallen und schaute das Mobile an der Decke an. Neben ihr sank die Matratze ein Stück tiefer, als Kilian sich ebenfalls auf das Bett legte.
Sie schwiegen eine Zeit, bevor Kilian leise fragte: „Wie findest du meine Mutter?"
Überrascht drehte Liv den Kopf in seine Richtung.
„Ist das dein Ernst?" ,fragte sie zurück. Er nickte leicht.
Sie schaute wieder zur Decke hinauf, bevor sie schließlich sagte: „Man merkt, dass sie deine Mutter ist."
Keine wirklich direkte Aussage, doch das war das Erste gewesen, was Liv bei Helenas Wesen in den Sinn gekommen war. Helena war eine tolle Person und verdiente so viel mehr als das hier. Das Gleiche galt auch für den Mann neben Liv. Und für Fiona, die wie ein Blitz plötzlich in ihren Gedanken einschlug.
Wie ging es ihr wohl? War sie überhaupt noch am Leben? Hatte der Dolch, den sie ihr gegeben hatte, etwas bezweckt? Liv wusste es nicht und sie spürte so etwas wie Schuld in ihr aufsteigen, weil sie so lange nicht mehr über das Mädchen mit den blauen wissenden Augen nachgedacht hatte.
„Glaubst du das Mädchen aus den Kerkern lebt noch?" ,fragte Liv in die Stille hinein, bevor sie Kilian fragend von der Seite ansah.
Er schien zu überlegen. Dann schaute er ihr in die Augen und sagte ernst: „Sie war lange da unten und obwohl Zayn sie immer wieder folterte, gab sie nie auf. Allerdings ohne Verpflegung und nur die Dunkelheit als Gemeinschaft. Ich glaube nicht, dass es möglich ist so noch lange zu überleben."
Liv nickte traurig. Sie hoffte für Fiona, dass ihre Götter sie zu sich geholt hatten und ihr einen der schönsten Plätze am Nachthimmel gegeben hatten, von wo aus sie weiter für eine bessere Welt hoffen konnte. Eine Welt, die es nie geben würde.

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt