Kapitel 13

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Eiskaltes Wasser lief über Kilians Gesicht und er rieb sich erschöpft die Augen. Auf dem morschen Holzboden vor ihm stand ein eingebeulter Eimer gefüllt mit ein wenig Wasser, den die rothaarige Frau Liv und ihm mitgegeben hatte, als sie gegen Mitternacht den Schankraum verließen, um auf ihr Zimmer zu gehen. Das Wasser war schmutzig, doch immer noch sauberer als seine verdreckte Haut. Mit einem durchlöcherten Lappen, den Liv in dem kleinen Schrank neben der Tür gefunden hatte, trocknete er seine Haut, während er sich in dem zerbeulten Spiegel musterte. Seine braunen, kurzen Haare lagen zerzaust auf seinem Kopf und unter seinen Augen hatten sich bereits dunkle Schatten gebildet. Früher hatten ihm zwei Tage in der Wildnis keine Probleme bereitet, doch jetzt... Er war am Hof des Königs mehr eingegangen, als er gedacht hatte.
Durch den Spiegel konnte er auch Liv erkennen, die ohne ihre Stiefel im Schneidersitz auf dem kleinen Doppelbett am anderen Ende des Raums saß und mit einem ihrer Dolche den Dreck unter ihren Nägeln entfernte. Sie hatte, sobald er die Tür des Zimmers geschlossen hatte, sich wieder in ihre eigene Gestalt verwandelt. Dann hatte sie sich wortlos mit dem Wasser im Eimer gewaschen und vorsichtig versucht ihre Wunde zu reinigen, wobei er lieber nicht versucht hatte ihr zu helfen. Das, was er an diesem Abend von ihr verlangt hatte, war mehr als genug gewesen und dass sie ihm nicht im erstbesten Moment einen Dolch an die Kehle gehalten hatte war wahrscheinlich nur ihrer Erschöpfung geschuldet, die sich auch unter ihren Augen langsam bemerkbar machte.
Immer noch in Gedanken versunken hängte er den Lappen über den Rand des Eimers und drehte sich langsam zu ihr um, wobei er den Kopf leicht einziehen musste, da er ihn sonst mit voller Wucht gegen die Dachschräge geschlagen hätte. Mit zwei Schritten war er am Bett angekommen und schaute fragend auf Liv hinab.
„Ich kann auch auf dem Boden schlafen" ,bot er an, auch wenn ihm der Gedanke zwischen Schmutz, Staub und Ratten zu schlafen nicht sonderlich gefiel.
„Schon in Ordnung" ,murmelte sie ohne von ihren Nägeln aufzuschauen.
Überrascht hob er die Brauen, doch er nahm ihr Angebot dankend an und ließ sich vorsichtig auf das knarzende Bett fallen. Dann zog er seine Stiefel aus und schwang langsam die Beine auf die weiße Matratze. Zumindest waren Decke und Bezug sauber und ohne Löcher, ganz im Gegensatz zum Rest des Raumes. Es gab nur ein kleines Fenster oberhalb des Bettes, wobei die Scheiben bereits eingeschlagen waren, sodass nur noch ein durchlöcherter Vorhang den eisigen Wind, der hinein wehte ein wenig abhielt. Abgesehen vom Bett gab es außerdem noch Platz für einen kleinen Schrank neben der Tür und einem dreibeinigen Stuhl, der so aus sah als würde er schon unter dem Gewicht einer Fliege zusammen brechen. Das einzige, was die kahlen, hölzernen Wände schmückte war der zerkratzte Spiegel.
„Das nächste Mal sorge ich für ein Gasthaus" ,murrte Liv plötzlich neben ihm.
Grinsend schaute er sie an, doch er ging nicht darauf ein, stattdessen sagte er etwas ernster: „Du schuldest mir noch eine Antwort."
Überrascht blickte sie von ihren Nägeln auf. „Woher willst du wissen, dass ich dir die Wahrheit sage?" ,fragte sie ausdruckslos.
Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber es geht doch auch nur um eine Antwort. Dass diese der Wahrheit entsprechen soll, wurde mit keinem Wort erwähnt" ,wiederholte er ihre Worte vom Mittag.
Sie schnaubte kopfschüttelnd und wendete sich wieder ihren Nägeln zu. Ein wenig enttäuscht lehnte Kilian sich zurück und verschränkte die Arme vor der nackten Brust. Was hatte er denn erwartet? Dass sie ihm auf einmal alles erzählen würde?
„Die kalten Dörfer" ,flüsterte sie plötzlich in die Stille hinein, „Ich bin dort bei einer alten Kriegerin aufgewachsen. An meinem fünften Geburtstag fing sie an mir das Kämpfen beizubringen. Mit sechs schickte sie mich zum ersten Mal in eine der Arenen. Ich kämpfte gegen einen zehnjährigen Jungen. Seinen Namen habe ich nie erfahren, doch er hat es nicht überlebt."
Damit endete sie ihre Erzählung. Ihr Dolch lag schlaff in ihrer Hand und ihre sturmgrauen Augen lagen starr an der gegenüberliegenden Wand.
Kilian atmete tief ein. Die kalten Dörfer also. Das erklärte einiges, aber vor allen Dingen ihren Kampfstil und ihre Unerschütterlichkeit, wenn es darum ging Leben zu beenden. Trotz ihrer hervorragenden Krieger, hatten sich die kalten Dörfer nicht am Krieg zwischen den Gestaltwandlern und den Menschen beteiligt. Sie waren die Einzigen gewesen, die objektiv blieben. Nach dem Krieg erklärte der König sie zu Verrätern, doch er wagte es damals wie heute nicht sie mit seinen geschwächten Truppen anzugreifen.
Dass die Kinder dort so früh in die Arenen geschickt wurden, um zur Unterhaltung der Erwachsenen zu kämpfen war nicht untypisch und doch schockierte Kilian Livs Erzählung mehr als er zugeben wollte. Sechs! Sie war sechs Jahre alt gewesen, als sie zur Mörderin wurde. Mit sechs war er noch weinend zu seiner Mutter ins Bett gekrochen, wenn er einen Albtraum gehabt hatte.
Er wusste, dass seine nächste Frage sehr persönlich war, doch er brauchte eine Antwort. „Wie hast du damals reagiert, als du den Jungen..." ,er sprach die Frage nicht zu Ende.
Liv schluckte, bevor sie ohne ihren Blick von der Wand zu nehmen leise sagte: „Ich habe mich drei Tage lang in meinem Zimmer eingesperrt. Ich habe nichts getrunken und nichts gegessen. Am vierten Tag kam sie und zwang mich dazu wieder zu trainieren. Sie sagte zu mir: Das Leben einer anderen Person, egal ob du sie kennst oder nicht, ist wertlos im Gegensatz zu deinem eigenen Leben!"
Kilian musste schlucken und das Zimmer wirkte auf einmal noch kleiner als es sowie so schon war. Wer auch immer diese Kriegerin war, die das gesagt hatte, sie konnte einfach kein guter Mensch sein.
„Was ist mit deinen Eltern?" ,fragte Kilian, noch ehe er über die Frage richtig nachgedacht hatte. Wahrscheinlich waren sie tot.
Livs Kopf schnellte bei seinen Worten zu ihm herum. In ihren Augen stand für einen Moment so etwas wie Panik. Doch der Ausdruck war verschwunden noch bevor Kilian ihn richtig erkennen konnte. Stattdessen erschien ein herausforderndes Grinsen auf ihren Lippen, das jedoch nicht im geringsten ihre Augen erreichte.
„Die Rede war von einer Antwort. Nicht von zehn" ,sagte sie schnaubend, bevor sie den Dolch in ihrer Hand auf den kleinen Nachttisch legte, die Kerze, die dort brannte ausblies und sich mit dem Rücken zu Kilian auf das Bett legte.
Ein paar Sekunden verstrichen in denen er nur ihrem leisen Atem lauschte. Dann blies er die Kerze auf seinem Nachtisch ebenfalls aus und legte sich neben sie.

~

Tausend Gedanken prasselten auf Liv ein, während sie Kilians regelmäßigem Atem lauschte. Auf dem Boden neben ihrem Nachttisch saß eine der Ratten und aß etwas, das so aus sah wie ein verschimmeltes Stück des legendären Gemüseeintopfs, der immer noch in Livs Magen rumorte. Der Schein des Mondes fiel durch das kaputte Fenster in ihr Zimmer hinein und tauchte den Raum in dunkle Schatten. Von draußen war seit ungefähr einer Stunde nichts mehr zu hören, denn die Kneipen hatten kurz nach Mitternacht dicht gemacht und die letzten betrunkenen Männer vor die Tür gesetzt.
Liv war so erschöpft wie schon lange nicht mehr. Wenn sie überhaupt mal lange Strecken zurück gelegt hatte, dann meistens in der Luft und nicht zu Fuß. Doch trotz der Müdigkeit, die wie ein Wolf über ihr zu lauern schien, bereit jeder Zeit auf sie einzustürzen, konnte sie kein einziges Auge zumachen.
Sie hatte Kilian seine Antwort gegeben, ihm Sachen erzählt, die sie schon seit sehr langer Zeit verdrängt hatte, doch auf einmal war es, wie in den Tagen nachdem sie den Jungen in der Arena getötet hatte. Diese Leere in ihr und ein Gefühl, das sie schon lange geglaubt hatte in einer der Arenen oder spätestens in Vasilias zurückgelassen zu haben. Schuld! Sie fühlte sich schuldig für den Tod des Jungen, für seine Familie und Freunde, die am Tag in der Arena weinend auf den blutigen Leichnam hinab sehen mussten. Immer wieder sah sie vor ihrem geistigen Auge, wie sie dem Jungen ihr Schwert ins Herz rammte, wie er mit leeren Augen zu ihr hinauf sah.
Woher kamen nur auf einmal all diese Erinnerungen? Dieser Junge, er war nicht anders als all die anderen Menschen, deren Leben sie bereits beendet hatte. Diese Menschen, für die sie sich keineswegs schuldig fühlte und an deren Gesichter sie keine einzige Erinnerung mehr hatte. Doch dann war da wieder das Bild des Jungen. Sein rotes Blut, das ihr ins Gesicht spritzte und an ihren verdreckten Händen klebte.
Die Wände des winzigen Zimmers rückten plötzlich immer näher auf sie zu und sie spürte wie sich trotz der Kälte Schweiß auf ihrer Stirn bildete. Sie musste hier raus und zwar sofort!
In einer schnellen Bewegung richtete sie sich auf und schwang ihre nackten Füße aus dem Bett. Ihre Stiefel ließ sie wo sie waren, während sie den Dolch, der noch auf ihrem Nachttisch lag, an ihren Gürtel steckte und zu dem kleinen Fenster hinüber ging, um es zu öffnen. Eiskalte Winterluft blies ihr ins Gesicht und sie schauderte augenblicklich. Dann atmete sie einmal tief ein, bevor weißes Licht um ihren Körper aufblitzte und ihre Arme sich zu Flügeln und ihre Füße zu Krallen verwandelten. Im selben Moment hatte sie die Gestalt eines weißen Falken angenommen.
Um den Ratten aus dem Weg zu gehen, die nun neugierig in ihre Richtung über den Boden flitzten, beförderte sie sich mit einem einzigen lautlosen Flügelschlag auf die winzige Fensterbank hinauf. Wachsam suchte sie die umliegenden Häuser und den leeren Platz ab, der sich unter ihr ausbreitete. Bis auf einer schwarzen Katze, die gerade in einer der Mülltonnen verschwand war nichts zu sehen.
Die unglaublich gute Sehfähigkeit war eine der Gründe, weshalb der Falke ihre liebste Gestalt war. Als sie noch in Vasilias gewesen war, war sie manchmal mehrere Tage in der Form dieses Tieres geblieben. Ein Tier war einfacher als ein Mensch zu sein. Man wurde kaum beachtet und das Einzige, worüber man sich wirklich Gedanken machen musste, war bis zum Abend etwas Nahrung gefunden zu haben.
Sie warf einen Blick auf Kilian zurück, der mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. Seine nackte Brust hob und senkte sich regelmäßig und der Mond tauchte seine zerzausten, braunen Haare in dunkle Schatten. Sie fragte sich ob es das Schicksal war, das sie daran hinderte ihn allein zu lassen oder doch etwas anderes, dass ihr sagte, dass dieser Mann ihr helfen konnte, ihr zeigen konnte welche Zukunft für sie bestimmt war. Vielleicht würde er ihr den Tod bringen, doch vielleicht auch das Leben.
Sie blickte nicht noch einmal auf ihn herab, während sie sich umdrehte und sich mit zwei kräftigen Flügelschlägen in den nächtlichen Himmel hinauf beförderte.

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt