Kapitel 48

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Kilian schrie. Angst und Wut durchfluteten ihn und zerstörten alles an Verstand, was noch in ihm übrig war. Nein! Nein! Nein! Das war nicht passiert! Das durfte nicht passieren! Er konnte sie nicht verlieren! Und doch lag seine Mutter regungslos vor Zayns Füßen, den leeren Blick an die Decke gerichtet. Noch immer floss Blut aus ihrem Hals hervor und vermischte sich mit dem Rot des Teppichs, doch irgendein Teil in Kilian wusste, dass sie fort war... für immer. Nein! Nein! Nein! Tränen verschleierten seinen Blick und sein Schwert und der Dolch fielen klirrend zu Boden. Zayn schaute ihn ausdruckslos an, während er ihr Blut beinah gleichgültig an seiner silbernen Tunika abwischte.
„Komm Kilian! Kämpf mit mir! Räche das Miststück!" ,rief Zayn ihm provozierend zu. Kilians Hände ballten sich zu Fäusten und ein unmenschliches Knurren brach aus seiner Kehle hervor. Zayn hatte sie getötet! Er hatte ihm die Person genommen, die Kilian am meisten geliebt hatte.
Nein! Nein! Nein! Kilian spürte, wie die Gestalt des Wolfes sich wie automatisch vor seinem inneren Auge bildete. Er würde Zayn in Stücke reißen und wenn er damit fertig war, würde er mit dem König fortfahren und mit all den anderen verräterischen Menschen in diesem Schloss. Er würde sie alle töten für das, was sie ihr angetan hatten!
Er wollte sich gerade verwandeln, als ihn plötzlich jemand am Arm packte. Er wirbelte mit erhobener Faust herum, doch als er sah, wer vor ihm stand, ließ er seine Hand langsam sinken. Liv war zu ihm gehumpelt und redete energisch auf ihn ein. Er verstand nicht, was sie sagte. Fiona stand ein wenig entfernt, eine Hand vor Schreck auf den Mund gepresst, während Tränen ihre Wangen hinunter liefen. Ihr Blick lag immer noch auf der Leiche seiner Mutter.
Kilian sah wieder zu Liv in ihre sturmgrauen Augen, in denen alle möglichen Gefühle tobten. Und dann drang endlich ihre Stimme zu ihm durch. „Kilian! Bitte. Wir müssen von hier verschwinden! Wir haben keine Chance gegen sie. Wir werden alle sterben, wenn wir bleiben!" ,rief sie verzweifelt, während sie an seinem Arm zog.
Kilian sah ausdruckslos auf sie herunter. Ihre Worte lösten nichts in ihm aus. Da war bloß Wut und... Leere. Er schaute wieder zu Zayn, der ihn immer noch triumphierend angrinste, das Schwert locker in der Hand. Wieder durchströmte Kilian eine Welle der Wut. Er würde Zayn das hässliche Grinsen aus dem Gesicht kratzen und die Augen, die schon lange nicht mehr menschliche Gefühle zeigten, gleich danach.
Wieder unterbrach Livs Stimme seine Gedanken. „Kilian! Bitte! Wir werden ihn bezahlen lassen. Wir werden sie alle bezahlen lassen. Das verspreche ich dir! Doch dieser Tag des Blutvergießens ist nicht heute" ,sagte sie beinah flehend, bevor sie etwas leiser hinzufügte, sodass nur er es hören konnte, „Sie hätte gewollt, dass du überlebst." Ihre letzten Worte berührten irgendetwas in Kilian. Vielleicht das letzte Stück Verstand, das noch übrig geblieben war, vielleicht auch das unendliche dunkle Meer der Trauer, das sich bereits unter ihm auftat.
Er schaute nicht noch einmal zu Zayn und der Leiche seiner Mutter zurück, als er in einer schnellen Bewegung sein Schwert aufhob, Liv unter die Schultern griff und los rannte. Fiona riss sich ebenfalls aus ihrer Starre und folgte ihm so gut es ging.
„Feigling!" ,rief Zayn hinter ihm her, doch Kilian ignorierte ihn, während er zwei Soldaten die Beine aufschlitzte, die aus der anderen Richtung auf sie zugekommen waren. Dann rannte er weiter.
Die kleine unscheinbare Tür fand er mühelos. In einer fließenden Bewegung riss er sie auf, hob Liv nun komplett hoch und streckte Fiona wortlos eine Hand entgegen, die sie schweratmend ergriff. Dann lief er so schnell wie möglich die dunkle Wendeltreppe hinunter. Kilian wusste genau, dass sie verfolgt wurden. Schritte und Rufe waren zu hören, doch in der Dunkelheit und der Enge der Treppe hatten die Soldaten Schwierigkeiten ihnen zu folgen.
Als sie endlich das Ende der Treppe erreichten und in den erhellten Gang traten, wo Robin mit fragendem Blick auf sie wartete, ließ Kilian Fionas Hand los und setzte Liv wieder auf die Füße.
„Was ist passiert?" ,stieß Robin hervor, doch Kilian antwortete ihm nicht, stattdessen ging er schweigend an dem Jungen vorbei und öffnete die Tür. Kalte Nachtluft wehte ihm entgegen und einige Schneeflocken fielen vom Himmel und landeten auf seinem blutverschmierten Umhang.
„Sie werden uns nicht sehr schnell folgen können, wenn nur das Haupttor offen ist" ,hörte er Livs Stimme wie aus weiter Ferne hinter sich. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie sie Robin anwies die Tür von Außen zu verschließen, während sie schnell auf Kilian zu humpelte.
„Kennst du jemanden, von dem wir zwei Pferde bekommen könnten?" ,fragte sie ihn schnell.
Er sah, dass sie unglaubliche Schmerzen litt und normalerweise hätte er sie dafür bewundert, dass sie immer noch aufrecht stehen konnte, doch in seinem Inneren war bloß Leere und da waren keine Worte, die ihm irgendwie über die Lippen hätten kommen können.
Er schüttelte ausdruckslos den Kopf, als Robin plötzlich sagte: „Ich kenne da vielleicht jemandem, von dem wir zumindest zwei Pferde stehlen könnten."
Kilian nahm die Worte des Jungen kaum wahr. Er hörte nur den Schrei seiner Mutter, sah die leeren Augen und die blutende Leiche vor ihm. Er würde den Lord von Amyr umbringen für das, was er ihr angetan hatte!

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt