Kapitel 3

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Livs Blut kochte vor Wut in ihren Adern. Am liebsten hätte sie dem König die Kehle durchgeschnitten. Wahrscheinlich hätte sie das auch getan, wenn der Captain sie nicht festgehalten hätte. Diese verdammten Gemälde an den Wänden, seine silberne Krone und seine unerschrockene Art ihr gegenüber. Er hatte sie provoziert und sie hatte sich provozieren lassen.
Es war fast ein Wunder, dass der König sie nicht direkt getötet hatte.
Das wusste der Captain anscheinend auch, denn er zog sie mit zusammen gebissenen Zähnen grob die goldenen Gänge des Palastes entlang. Er hatte seine Finger so fest um ihr Handgelenk gelegt, dass seine Nägel beinah ihre Haut aufrissen. Sie zog scharf die Luft ein, während sie einen verlassenen Korridor entlang gingen.
„Könntest du bitte aufhören meine Haut aufzuschlitzen, sonst haben wir gleich ein ziemlich großes Problem!" ,zischte sie ihm beinah unhörbar zu.
Man sah ihm an, dass er kurz davor war sie anzuschreien, doch er schluckte die Worte hinunter und zischte stattdessen wütend zurück: „Nicht wir! Du! Und hättest du gerade nicht so eine Show abgezogen, hätten wir auch ohne Probleme meinen Plan in die Tat umsetzen können."
Liv schluckte leicht. Eigentlich hatte er ja Recht, doch sie bekam keine Entschuldigung über ihre Lippen.
„Ist ja gut! Aber du hast doch bestimmt einen anderen Plan wie wir hier rauskommen. Oder?" ,fragte sie stattdessen leise.
Er nickte kurz und der Griff um ihr Handgelenk lockerte sich leicht, als sie um eine Ecke traten und einer weiteren Treppe in Richtung Kerker folgten. Die goldenen Wände wechselten zu dicken Steinmauern und je weiter sie nach unten gingen, desto kälter wurde es. Liv fröstelte. Auch wenn sie die Eiseskälte im Norden gewohnt war, hieß das nicht dass sie sie mochte. Sie wollte gerade den Captain fragen, was denn genau sein Plan war, als sie das Ende der Treppe erreichten und eine eiserne Tür vor ihnen auftauchte. Zwei Wachen standen schwerbewaffnet davor. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, doch als sie den Captain sahen wanderten ihre Mundwinkel leicht nach oben.
„Captain! Mission geglückt?" ,fragte der eine, während er sie ehrfürchtig musterte.
Er war schon älter und der Ansatz seiner dunkelbraunen Haare färbte sich bereits gräulich. Genauso wie sein Partner trug er eine Rüstung, die mit dem Wappen von Vasilias bestickt war. Ein schwarzer Falke auf silbernem Hintergrund, der die Flügel weit ausgebreitet hatte. Das Wappen war nach dem Krieg als Symbol für den Sieg über die Gestaltwandler geändert und als das Zeichen beider Reiche erklärt worden. Liv hatte es schon immer gehasst.
Die Stimme des Captain riss sie aus ihren Gedanken. „Wie ihr seht" ,er deutete mit einer Kopfbewegung auf sie, „gab es keinerlei Probleme."
Es war ein Test und so grinste sie die beiden Wachen nur süffisant an, statt etwas zu erwidern. Der Ältere von ihnen, der auch gesprochen hatte, erwiderte ihren Blick für einen kurzen Moment, bevor er sich wieder dem Captain zuwandte. Der andere jedoch wich ihrem Blick ängstlich aus und starrte unsicher auf einen Fleck an der gegenüberliegenden Wand.
Er war relativ groß und dünn und auf seinem Gesicht waren mehrere Sommersprossen zu sehen. Anscheinend war er noch nicht sehr lange dabei, was die Sache erleichterte, falls sie, um hier rauszukommen, die beiden überwältigen musste.
Der Captain neben ihr nickte den beiden kurz noch einmal zu, bevor er die eiserne Tür öffnete und sie grob hinter sich herzog.
Sie betraten einen schummrigen Gang. Livs Atem bildete kleine Wölkchen in der eiskalten Luft und nur wenige Fackeln erhellten ihren Weg. Während die Tür hinter ihnen wieder ins Schloss fiel, erkannte Liv an beiden Seiten des Ganges mehrere Türen. Alle bestanden aus dem gleichen Material und waren genauso stabil wie die große Tür hinter ihr.
Nachdem er einmal tief eingeatmet hatte, folgte der Captain mit möglichst schnellen Schritten dem Gang und zog sie neben sich her. Nicht ein einziges Mal schaute er zu den Türen, aus denen Liv ab und zu ein leises Wimmern oder Stöhnen hören konnte. Man konnte den Tod förmlich spüren, der auf diesem Ort lag.
Sie folgten verschiedenen Gängen, bogen mal links, mal rechts ab oder schritten steinerne Treppen hinunter. Und bei jedem einzelnen Schritt hörten sie das Stöhnen der Gefangenen, das aus den geschlossenen Türen klang, die beinah endlos jeden Gang säumten. Am Gesichtsausdruck des Captain konnte sie erkennen, dass er wohl nicht ganz unbeteiligt an diesem Arsenal an Gefangenen war, doch stolz darauf schien er auch nicht zu sein.
Sie gingen um eine weitere Ecke, als plötzlich ein schmerzerfüllter Schrei durch den Gang hallte, gefolgt von einem hämischen Lachen. Der Captain verspannte sich spürbar und es schien ihm immer schwieriger zu fallen die Fassung zu wahren.
Liv ließ ihren Blick mit gerunzelter Stirn über die vielen Türen wandern. Das Ende des Ganges schien in einen größeren, helleren Raum zu münden. Ein weiterer Schrei hallte von den Wänden wider. Er war voller Schmerz, voller Angst.
Instinktiv wollte Liv nach dem Dolch in ihrem Stiefel greifen, doch der Captain hielt sie mit einem warnenden Blick davon ab, während sie den erhellten Raum betraten. Sie brauchte einen Moment, um sich an das plötzlich helle Licht zu gewöhnen, das von mehreren Fackeln an den Wänden stammte.
Das erste, was sie sah, war eine Pfütze aus silbernem Blut, das von einem Tisch auf den Boden tropfte. Liv erschrak innerlich. Sie folgte dem silbernem Blut zu einer jungen Frau und pures Entsetzen breitete sich in ihr aus.
Das Mädchen, das wohl eine  Gestaltwandlerin war, war mit vier Messern, die durch ihre Hände und Füße gebohrt worden waren, am Tisch festgesteckt worden. Sie trug keine Kleidung und eine riesige Ladung Eiswasser, die über ihren bereits geschundenen Körper geschüttet worden war, verhinderte, dass sie sich verwandeln konnte. Ihre blonden, von silbernem Blut verschmutzten Haare klebten an ihrem hübschen Gesicht. Sie war nicht einmal 16.
Bei dem hilflosen, traurigen Blick, den sie Liv mit ihren blauen Augen zu warf, musste sie sich zusammen reißen nicht zu ihr zu rennen und die Messer aus ihrem Körper zu entfernen. Es war ein schrecklicher Anblick und rein gar nichts auf dieser Welt rechtfertigte es einem Mädchen so etwas anzutun.
Eine amüsierte Männerstimme durchschnitt die Stille: „Ah! Kilian! Was hat sie gesagt, dass der König sie nach hier unten bringen lässt, statt ihr einfach direkt die Kehle durchzuschneiden?"
Liv schaute auf und musterte den Mann, der neben dem Tisch stand, irgendein Folterinstrument in der Hand. Es war der Adlige aus der Kneipe. Sein langes, blondes Haar lag ordentlich auf seinen Schultern und er trug noch seine silberne Jacke, die er auch in der Kneipe getragen hatte.
Liv zog scharf die Luft ein, um ihre aufkeimende Wut irgendwie zu unterdrücken und ihre Hände ballten sich automatisch zu Fäusten, während der Mann sie mit einem anzüglichen Lächeln auf den Lippen ungeniert musterte.
„Wenn sie weiter so macht" ,sagte er mit Blick auf ihre geballten Fäusten, „dann bekomme ich vielleicht die Ehre mich mit ihr ebenfalls ein bisschen zu vergnügen."
Augenblicklich erschien ein Bild in ihrem Kopf. Sie ausgebreitet auf diesem Tisch mit Messern in Händen und Füßen und er wie er jede Faser ihres Körpers mit einem triumphierenden Grinsen auf den Lippen musterte. Man sah ihr wohl an, was sie dachte, denn das Lächeln des Mannes wurde nur noch breiter.
Es kostete Liv ihre gesamte Willenskraft ihn nicht selber auf diesen Tisch zu legen und so zu foltern, wie er es mit der junge Gestaltwandlerin gerade tat, die sie immer noch hilflos ansah. Doch gerade als sie es nicht mehr aushielt und einen Schritt auf den Mann zu machen wollte, zog der Captain sie energisch zur Seite.
„Ich bin mir sicher, an Leuten, die du foltern kannst mangelt es dir nicht, Zayn" ,sagte er möglichst ausdruckslos, was ihm nicht ganz gelang.
Doch Zayn lachte laut auf, sichtlich amüsiert von den Worten des Captain. „Da hast du nicht ganz unrecht, aber so eine Schönheit nehme ich immer wieder gerne in meine Sammlung auf" ,sagte er mit einem Blick auf Liv.
Sie schnaubte vor Wut, doch noch bevor sie etwas sagen konnte, hatte der Captain sie aus dem Raum gezogen, eine weitere Treppe hinunter und das Wimmern der Gestaltwandlerin und Zayns Lache verstummten.
Sie konnte nicht sagen wie tief sie bereits unter der Erde waren, als der Captain vor einer eisernen, großen Tür Halt machte und sie mit einem Schlüssel aus seiner Tasche aufschloss. Der Schlüssel war rostig, was darauf schließen ließ, dass er ihn nicht besonders oft benutzte.
Die Tür quietschte leise, als er sie aufstieß und sie in einen stockfinsteren Gang traten. Krachend fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss und sie wurden von der Dunkelheit verschlungen.
Nirgends brannte eine Fackel oder es schien Licht durch ein Fenster hinein. Es herrschte pure Schwärze bis der Captain eine Fackel entzündete und damit vor sie in den Gang leuchtete. Genauso wie die anderen Gänge zu vor, säumten Türen die dicken Steinmauern, doch sie standen alle offen.
„Wieso sind die Zellen leer?" ,flüsterte Liv, während sie den Captain fragend anschaute.
Dieser schluckte leicht, bevor er leise sagte: „Früher wurden hier Gestaltwandler gefangen gehalten. Mit der Zeit wurden es immer weniger. Das Mädchen, das du oben gesehen hast, ist die Einzige, die momentan hier ist."
Liv nickte leicht. „Aber wieso schickt der König mich hier hin, wenn er denkt ich sei ein Mensch?" ,fragte sie weiter, wobei sie bei ihren letzten Worten immer leiser wurde.
Er zuckte mit den Schultern, während er sich langsam in Bewegung setzte. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder er hat einen Verdacht was du bist oder er will einfach sicher gehen, dass du auf gar keinen Fall entkommst" ,sagte er immer noch leise.
„Fragt sich welche Möglichkeit besser ist" ,murmelte Liv mehr zu sich selbst, während der Captain vor einer der Türen stehen blieb und ihr mit einer Kopfbewegung bedeutete einzutreten. Sie rümpfte die Nase, als ihr der Geruch von Blut und abgestandenem Fleisch entgegen schlug.
„Die Gestaltwandlerin ist direkt neben dir. Du kannst deinen Dolch ja benutzen, um sie von ihren Qualen zu befreien." ,sagte der Captain ausdruckslos, bevor er sie leicht in die Zelle hinein stieß.
Augenblicklich wurde es noch kälter und Liv wusste, dass dies wohl eine der härtesten Nächte ihres Lebens werden würde. Der Captain legte eine Hand an die Tür, um sie zu schließen.
„Du heißt also Kilian" ,sagte sie mit schief gelegtem Kopf und musterte sein Gesicht im Schein der Fackel in seiner Hand. Er hielt mit der Hand an der Tür inne, doch statt etwas zu erwidern, schaute er ihr direkt in die Augen.
Sie lächelte leicht: „Da ich deinen Namen nun weiß, ist es wahrscheinlich nur fair dir meinen zu verraten. Liv!" Sie streckte ihm die Hand entgegen, zog sie aber fast im selben Moment wieder zurück, als er sich abwandte und die Tür weiter schloss.
„Wieso hast du dem König nicht gesagt, was ich bin?" ,flüsterte sie leise und er hielt noch einmal inne.
Sie hatte damit gerechnet, dass er sie verraten würde, doch irgendetwas in ihrem Inneren hatte ihm vertraut, weshalb sie mitgekommen war. Sie hatte ihre Entscheidung beim Betreten des Palastes sofort bereut, doch hatte sie sich dann damit abgefunden irgendwie aus den Kerkern fliehen zu müssen.
Nach kurzer Zeit des Schweigens sagte er leise: „Frag mich das nochmal, wenn wir morgen hier raus sind. Ich hole dich bei Sonnenaufgang ab. Gute Nacht, Liv."
Dann schloss er die Tür und ein Schlüssel drehte sich klappernd im Schloss herum. Sie rührte sich erst, als seine Schritte im Gang verklungen waren.
Entweder sie war furchtbar naiv ihm zu glauben und er führte sie die ganze Zeit an der Nase herum oder er war nicht der, der sie dachte, denn kein Captain, kein Mensch am Hofe des Königs würde einer Gestaltwandlerin helfen wollen.

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt