PROLOG

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Es war Nacht. Kein einziger Stern war unter der dicken Wolkendecke zu erkennen. Selbst der Mond leuchtete nur blass auf das stürmische Meer hinab. Ein eiskalter Wind wehte über den riesigen Ozean und dicke Regentropfen landeten platschend im Wasser.
Eine Nacht, in der nicht ein einziges Boot auch nur wagte die Wellen des Ozeans zu befahren. Eine Nacht, in der sich selbst die Waldläufer an der westlichen Küste ein Dach über dem Kopf suchten. Eine Nacht, in der kein einziges Tier aus seinem Unterschlupf trat. Eine Nacht, in der die Welt draußen still stand.
Doch da zwischen strömendem Regen und der kalten Gischt der Wellen ein schneeweißer Falke, der gegen den stürmischen Wind ankämpfte. Jede seiner Federn war vom Regen beinah durchweicht, doch seine sturmgrauen Augen lagen verbissen und siegessicher am nördlichen Horizont.
Erst beim näher kommen sah man das schwarze Bündel, welches an einem Strick an seinen Krallen baumelte. Bei jeder Windböe, die die Flügel des Falken erfasste, schaukelte das Bündel bedrohlich hin und her und der Strick schien bis zum Zerreißen gespannt zu sein.
Der Falke änderte ruckartig seine Richtung und flog mit kräftigen Flügelschlägen nach Westen, wo man zwischen Regen und Nebel schneebedeckte, graue Berge erahnen konnte. Gleich hatte er sein Ziel erreicht.
Das Wasser unter ihm wechselte zu steinigen, spitzen Felsen, dahinter ein schier undurchdringliches Gebirge mit rauen Bergen, die sich in den Himmel schraubten und sich im Nebel verloren. Nichts wies auf jegliches Leben hin, bis auf vereinzelte Lichter, die plötzlich am Fuße des Gebirges aufleuchteten.
Der Falke hielt zielstrebig darauf zu. Beim Näherkommen konnte man dunkle Holzhütten erkennen, die an die Felsen geschmiegt ein kleines Bergdorf bildeten. Kein Mensch war auf den steinigen Straßen unterwegs, die sich an den Bergen entlang schlängelten und es brannten nur noch vereinzelte Lichter in den Fenstern der Hütten, als der weiße Falke in einer dunklen Gasse landete. Irgendwo schlug eine Uhr Mitternacht.
Behutsam legte der Falke das Bündel auf dem Boden ab, bevor helles Licht aufleuchtete und sich die Federn zu Haut verwandelten, die Krallen zu Füßen und die Flügel zu Armen.
Dann stand eine Frau in der Gasse. Ein schwarzer Umhang verbarg ihr Gesicht und bis auf ein paar vereinzelte weiße Strähnen, die unter ihrer Kapuze hervor blitzten verriet nichts wer oder was sie war.
In einer schnellen Bewegung hob sie das Bündel vom Boden auf, verbarg es unter ihrem Umhang und trat aus der Gasse, hinaus auf den kleinen Marktplatz des Dorfes. Die Bretter der provisorisch zusammen genagelten Stände schlugen im Wind krachend aufeinander und die dicken Regentropfen, die immer noch vom Himmel fielen, landeten auf den harten Pflastersteinen des Platzes.
Mit zielstrebigen schnellen Schritten überquerte die Frau den Marktplatz und hielt auf eine Hütte zu, die etwas entfernt der Anderen zwischen den Steinen erbaut worden war. Immer wieder schaute sie sich unsicher um, spähte unbemerkt in Gassen hinein oder machte einen großen Bogen um Fenster, in denen noch Licht brannte. Niemand bemerkte sie.
Vor der Hütte blieb sie abrupt stehen. Die Fenster waren dunkel, die Bretter morsch und in dem hölzernen Dach klaffte ein riesiges Loch. Der kleine Garten bestand aus einigen kaputten Holzstühlen, die durch den Sturm wohl umgefallen waren und einer hüfthohen Wiese, die seit Jahren nicht mehr gemäht worden war.
Alles wirkte verlassen und ungepflegt, doch die Frau trat trotzdem an die steinigen Stufen zur Tür heran, holte das schwarze Bündel hervor und legte es behutsam auf die durchlöcherte verschmutzte Fußmatte.
Dann schaute sie sich verstohlen um, bevor sie einen versiegelten Brief aus ihrer Tasche zog und ihn neben das Bündel legte. Eine Träne bahnte sich einen Weg unter ihrer Kapuze hervor und fiel auf die steinigen Stufen der Hütte, als sie einen Schritt zurück trat und mit schief gelegtem Kopf auf das Bündel hinab sah.
Bleiche Haut blitzte zwischen den Decken hervor, aus denen das Bündel bestand. Es war ein Kind. Die Frau schluckte leicht.
„Du bist unsere einzige Hoffnung Liv und ich werde immer bei dir sein." ,flüsterte sie beinah unhörbar, bevor sie an die Tür klopfte.
Im Haus schien sich etwas zu regen und ein Licht wurde in einem der Fenster entzündet. Die Frau schaute noch ein letztes Mal auf das Kind hinab. Dann leuchtete helles Licht auf und ein weißer Falke schoss in den dunklen Nachthimmel hinauf.

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt