Kapitel 31

578 64 3
                                    

Liv lag wach und starrte stumm an die hölzerne Decke von Kilians Zimmer, während sich ihre Gedanken zu einem Wirbelsturm in ihrem Kopf auftürmten. Erinnerungen von ihrer Kindheit, von den Kämpfen in den Arenen, von den langen Trainingseinheiten, aber auch von den stillen Morgenstunden, in denen sie ins Gebirge geflohen war. Weg von dem Monster in ihr, das keinen Frieden kannte.
Sie hatte ihr Leben nie gehasst bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag. Der Tag, der alles, an dass sie geglaubt hatte, auf einen Schlag zerstört hatte. Die Scherben davon lagen immer noch in ihr verteilt und schnitten in ihr Fleisch. Liv hatte sie nicht aufgehoben oder versucht sie wieder zusammenzukleben. Sie hatte es nicht gekonnt. Sie konnte es bis heute nicht und sie glaubte auch nicht daran, dass sie es jemals können würde.
Sie sah den Brief vor ihren Augen, fest durch das silberne Siegel des Falken verschlossen. Liv kannte das Siegel. Sie wusste, was es einmal bedeutet hatte.
Sie hatte den Umschlag geöffnet, den Brief herausgeholt und die schnörkelige Handschrift gelesen. Dann hatte sie sie nochmal gelesen und nochmal und nochmal und dann hatte Liv den Brief zerrissen und ins Kaminfeuer geworfen. Ohne einen Blick zurück hatte sie schweigend die Hütte verlassen, sich in den weißen Falken verwandelt und war so hoch geflogen bis der Wind ihr die Tränen in die Augen trieb.
Am nächsten Tag hatte sie in Vasilias die erste der protzigen Villen ausgeraubt und damit angefangen sich einen Namen in der Stadt des Königs zu machen. Sie hatte nie wieder an die Worte des Briefes gedacht, als könnte sie sie dadurch ungeschehen machen. Doch jetzt war alles wieder da und Liv schaffte es einfach nicht den Sturm der Erinnerungen zu zähmen, der sich immer wieder aufbäumte und versuchte herauszubrechen.
Das war der Moment, in dem sie sich aufrichtete, aus dem Bett stieg, sich in den weißen Falken verwandelte und aus dem Fenster in die lauwarme Nachtluft hinaus flog. Es war noch nie so schwer für sie gewesen zu atmen.
Sie landete am Ufer des Sees, bevor sie sich zurückverwandelte und die Tränen stumm ihre Wangen hinablaufen ließ. Sitzend schlang sie ihre Arme um ihre Beine und starrte auf das dunkle Wasser, in dem sich der Nachthimmel spiegelte. Die vielen Sterne, die vielen Erwartungen und sie alleine, um irgendwie mit ihnen zu leben. Liv hatte sich nie einsam gefühlt. Sie hatte immer gedacht, dass es so besser war. Alleine war man stärker! Doch in diesem Moment, erschlagen von all dem Ungesagtem, wünschte sie sich jemanden, der zuhörte, jemanden, der verstand, jemanden, der half.
Plötzlich hörte sie beinah unhörbare Schritte im Gras hinter sich und fuhr herum. Haselnussbraune Augen musterten sie mitfühlend, bevor Kilian sich in der Gestalt des braunen Wolfes neben sie setzte und ebenfalls auf den dunklen See starrte.
Schnell wischte Liv sich über die Augen, um die Tränen verschwinden zu lassen, als weißes Licht neben ihr aufleuchtete und Kilian leise anbot: „Ich kann auch wieder gehen, wenn du willst."
Überrascht schaute Liv ihn von der Seite aus an. Gerade hatte sie sich noch jemanden gewünscht? Was wenn Kilian dieser jemand war? Sollte sie ihn dann wegschicken? Sie hatte ihn schon zu oft von sich gestoßen und doch war er immer wieder zu ihr zurück gekommen.
Mit belegter Stimme sagte sie: „Bleib...bitte." Er schaute sie direkt an, Mitgefühl und Trauer in den Augen und dann nickte er langsam.
„Willst du reden?" ,fragte er nach einiger Zeit des Schweigens.
Liv wollte mit ihm reden, ihm alles erzählen, doch die Angst hielt sie zurück. Was würde er denken? Was würde er tun? Würde er sie dafür verurteilen, dass sie geflohen war? Würde er sie dazu bringen jemand zu werden, der sie nicht war?
„Ich weiß nicht" ,antwortete sie schließlich, ohne ihn anzusehen, „Ich habe Angst."
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er den Mund öffnete, um etwas zu erwidern, doch er schloss ihn sofort wieder, öffnete ihn erneut und fragte, während er aufstand und ihr eine Hand entgegen streckte: „Wie wäre es, wenn wir erstmal klein anfangen?" Ein Lächeln umspielte seine Lippen und Liv schaute verwirrt und fragend zu ihm hoch, bevor sie zögernd seine Hand ergriff und sich von ihm hochziehen ließ.
Er ließ ihre Hand nicht los, bis er sie zu einer anderen Stelle am See geführt hatte, wo das Wasser flacher war. Dann zog er seine Stiefel aus und fing an sein Hemd aufzuknöpfen, bevor er es zu seinen Stiefeln auf dem Boden ablegte.
Liv dämmerte es langsam, was er vorhatte, als er ihre Hand erneut ergriff und sie vorsichtig in das flache Wasser des Sees zog. Das kühle Wasser umspielte ihre nackten Füße und durchnässte ihre dunkle Hose. Langsam ließ Liv sich tiefer in das stille Wasser führen. Waden, Knie, Oberschenkel, Hüfte...
Sie blieb abrupt stehen. Ihr Atem ging stoßweise und sie zitterte am ganzen Körper. Die Erinnerungen überkamen sie wie eine Flutwelle und rissen an ihrem Bewusstsein. Sie taumelte leicht und schon stand Kilian neben ihr und hatte einen Arm um sie gelegt.
„Ich bin da! Es passiert dir nichts" ,sagte er eingehend.
Sie machte einen weiteren Schritt tiefer ins Wasser und dann noch einen und noch einen. Sie spürte ihren Herzschlag durch ihren Körper dröhnen und das Blut rauschte in ihren Ohren. Oder war es das Meer? Wellen brachen über ihr zusammen. Sie bekam keine Luft mehr.
„Atmen Liv!" ,verlangte Kilian neben ihr.
Das Wasser reichte ihr mittlerweile bis zu den Schulter. Ein Schritt und sie würde untergehen. Wieder schlugen die Wellen über ihr zusammen drückten sie nach unten.
„Sieh mich an! Sieh mich an, Liv!" ,verlangte Kilian erneut. Er stand jetzt vor ihr. Seine Hände hielten ihre Arme, die sie schützend um ihren Körper geschlungen hatte und Liv konnte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht spüren.
Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Die braunen gelockten Haare, die leichten Sommersprossen auf seiner Nase, der kantige Kiefer und die Sprenkel in seinen haselnussbraunen Augen. Die Entschlossenheit, die ihr fehlte, lag in seinem Blick und da war auch noch so viel mehr, das sie nicht deuten konnte.
„Ich zähle gleich bis drei und dann gehst du noch einen Schritt. Alles klar?" ,erklärte er ihr.
„Ich... ich kann nicht schwimmen" ,presste Liv mit zitternder Stimme hervor.
Kilian nickte knapp, bevor er sagte: „Ich bin hier! Ich halte dich fest! Vertrau mir einfach!"
Und Liv tat es. Auf drei sprang sie nach vorne in seine Arme und krallte sich mit ihren Händen an seinen Schultern fest. Das Wasser berührte ihre Kehle, doch sie ging nicht unter. Es ging ihr gut. Sie war sicher!
Sie lauschte den Geräuschen um sich herum, nicht fähig auch nur einen Muskel zu bewegen. Das leise Plätschern des Wasser, das gegen ihren Körper schwappte, Kilians Atem an ihrem Haar, ihr Atem an seiner Schulter. Sonst Stille. Kein Rauschen, keine Wellen, keine Felsen. Frieden! „Könntest du bitte aufhören meine Schultern aufzukratzen" ,brummte Kilian plötzlich in ihr Haar. Schnell lockerte Liv ihren Griff, bevor sie langsam ihre Augen öffnete, die sie zugepresst hatte und ihren Kopf von seiner Schulter hob, um ihn anzusehen.
Sie hatte es geschafft! Sie stand in diesem gottverdammten See wegen ihm! Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, während die Panik in ihrem Herzen sich immer weiter zurück zog. Sie hatte es geschafft!
Auch Kilians Mundwinkel wanderten nach oben. Stolz und Triumph lagen in seinen Augen, während er sie ansah, als gäbe es nur noch sie beide auf dieser verdammten von den Göttern verlassenen Welt. Und in diesem Moment glaubte Liv ihm. Sie hatten es geschafft! Zusammen!
Ihr Lächeln verschwand auch nicht, als Kilian sich plötzlich vorbeugte und seine Lippen auf ihre drückte. Weich, vorsichtig und doch gleichzeitig ungehalten, als hätte er viel zu lange auf diesen Moment gewartet. Ihr ganzer Körper kribbelte und ihr Herz schlug ihr von den Zehenspitzen bis zur Kopfhaut. Hätte sie sich vorher ihren ersten Kuss vorgestellt, dann ganz sicher nicht so. In einem See, unter dem Sternenhimmel, nachdem sie eine ihrer größten Ängste überwunden hatte.
Sie lösten sich voneinander und dieses triumphierende Grinsen, das Liv kannte, seit sie Kilian das erste Mal in der dunklen dreckigen Kneipe in Vasilias begegnet war, breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Ich glaube jetzt habe ich gewonnen!" ,sagte er leise. Das Blut schoss ihr in die Wangen und sie legte lächelnd ihren Kopf auf seine Schulter.
„Niemals!" ,stellte sie klar, doch es klang nicht einmal ansatzweise überzeugend.

Liv lehnte an einem der Zäune und genoss die aufgehende Sonne, die ihr Gesicht wärmte und den See zum glänzen brachte. Ein ungewohntes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, während sie den Vögeln und dem Rauschen der Blätter lauschte.
Nachdem Kilian sie gestern aus dem See getragen hatte und sie zusammen zurück in sein Zimmer geklettert waren, hatten sie nur noch stumm und nass nebeneinander gelegen. Irgendwann war sie eingeschlafen und erst am Morgen wieder aufgewacht, neben einem schlafendem Kilian. Es hatte einen Moment gedauert, bis ihr die Geschehnisse der Nacht wieder bewusst geworden waren und seit dem lag dieses Lächeln auf ihrem Gesicht, das nicht mehr verschwinden wollte.
Die Stimme von Helena riss Liv aus ihren Gedanken. „Darf ich raten warum du so gut gelaunt bist?" ,fragte sie mit hochgezogenen Brauen, während sie sich neben Liv an das Gatter lehnte. Fasziniert beobachtete Liv, wie die Sonne die Sprenkel in ihren Augen zum tanzen brachte. Es waren Kilians Augen. Augen voller Mitgefühl und Glück.
Helena schüttelte grinsend den Kopf. „Manchmal wäre ich auch gerne nochmal so jung wie ihr" ,murmelte sie mehr zu sich selbst.
Dann schaute sie Liv etwas ernster an, bevor sie direkt fragte: „Weiß er es?"
Liv fuhr zu ihr herum. Was meinte Helena? Wusste sie es? Wusste sie wer sie war? Ihre Augen weiteten sich panisch und das Lächeln verschwand augenblicklich aus ihrem Gesicht. Sofort waren die Mauern wieder da, eine nach der anderen zog sie sie hoch.
Helena musterte sie traurig. „Ich kannte sie Liv. Sie sah exakt so aus wie du. Nur die Augen sind von ihm. Von dem Moment, wo ich dich zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich es" ,sagte sie leise.
Liv schwieg. In ihr herrschte nichts als Panik, während der Wirbelsturm an Gedanken immer weiter Fahrt aufnahm.
Helena schaute sie eingehend an, während sie fortfuhr: „Du hast Angst. Das sehe ich, aber nur du kannst das Volk der Gestaltwandler wieder vereinen und den König stürzen. Tust du nichts, wird es euch irgendwann nicht mehr geben. Einen nach dem anderen wird er abschlachten. Männer, Frauen, Kin..."
Liv konnte nicht mehr. Es war alles zu viel. „Hör auf!" ,schrie sie aus. Ihre Atmung ging stoßweise und sie raufte sich das Haar.
„Liv, wenn du jetzt vor all dem fliehst..." ,versuchte Helena sie zu beruhigen. Sie wollte eine Hand auf ihre Schulter legen, doch Liv schlug sie weg.
„Ich sagte, hör auf" ,sagte sie bedrohlich leise.
Helena nickte langsam. „Ich lasse dich ein bisschen allein" ,murmelte sie, bevor sie sich umdrehte und zur Hütte zurück ging. Liv sah ihr nach, bevor sie sich in den weißen Falken verwandelte und ebenfalls zurück zur Hütte flog.
Sie nahm wieder ihre eigene Gestalt an, noch bevor sie den Boden von Kilians Zimmer richtig erreicht hatte. Stolpernd ging sie zu seinem Schreibtisch hinüber und befestigte mit schnellen Griffen Schwert und Dolche an ihrem Gürtel. Sie musste hier weg! Weg von diesem Land, weg von diesem verdammten Kontinent!
„Was tust du da?" ,hörte sie plötzlich eine all zu bekannte Stimme hinter sich fragen.
Panisch wirbelte Liv herum. Kilian saß auf dem Bett. Barfuß, das Haar zerzaust vom Schlafen, die Stirn verwirrt in Falten gelegt. Sie starrte ihn an, unfähig sich zu bewegen.
„Verdammt Liv, was ist los?" ,fragte er erneut, bevor er aufstand und langsam auf sie zu kam.
Sie wich vor ihm zurück. Erst einen Schritt, dann immer weiter in Richtung Fenster. Vorsichtig streckte er eine Hand nach ihr aus. Sofort zog sie ihr Schwert und hielt es ihm entgegen. Die tödliche Klinge berührte seine nackte Brust und er schaute sie erschrocken an, während er langsam seine Hand zurück zog.
„Liv, was ist passiert? Rede mit mir! Was ist los?" ,fragte er wieder. Diesmal konnte sie Verzweiflung in seiner Stimme hören und sie spürte wie sich bei seinen Worten alles in ihr zusammen zog.
„Ich darf niemandem vertrauen. Nicht einmal dir" ,sagte sie ausdruckslos. Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen und sie konnte ihm ansehen, wie ihre Worte ihn verletzten, doch sie konnte das Gesagte, die Wahrheit nicht zurück nehmen.
Er starrte auf das Schwert in ihrer Hand, dann zurück zu ihr und plötzlich erschien Wut in seinen haselnussbraunen Augen, bevor er unter zusammen gebissenen Zähnen hervor presste: „Dann solltest du vielleicht mal damit anfangen, denn du kannst nicht allein gegen die ganze Welt kämpfen!"
Diesmal zuckte Liv zusammen. Es war zu viel. Sie musste weg, weg von ihm! Sofort! Ohne ein weiteres Wort steckte sie ihr Schwert zurück an den Gürtel, verwandelte sich in den weißen Falken und flog aus dem Fenster. Sie schaute nicht zurück.

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt