Kapitel 38

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Konzentriert beobachtete Kilian die unterschiedlichen Menschen, die über den Platz liefen und ihren Geschäften nachgingen. Eine lange Schlange an Karren, Kutschen und Pferden, die sich vor der Brücke gebildet hatte, zog sich durch die Menschenmenge. Die Händler und Reisenden wirkten erschöpft und genervt von der langen Wartezeit, doch keiner wagte es die Brücke ohne Kontrolle zu passieren. Dafür sorgten die bewaffneten Soldaten, die auf der Brücke standen und jedem Passanten einen kleinen Schnitt mit ihren Dolchen zufügten. Rot hieß freie Fahrt ins Reich der Menschen. Silber bedeutete Folter und Tod. Die Kontrollen waren unsinnig. Als wenn die Gestaltwandler, die noch lebten, so dumm waren über die Brücke zu gehen.
Kilian zog die Kapuze von seinem dunklen Umhang noch weiter ins Gesicht und drückte sich in den Schatten der Hauswand. Obwohl er die Gestalt eines Söldners trug, der vor zwei Tagen den Weg mit ihm und seiner Mutter gekreuzt hatte, war er vorsichtig. Ein falscher Schritt und man könnte Verdacht schöpfen.
Die Plakate an den Wänden der Gasthäuser, die Livs und sein eigenes Gesicht zeigten beunruhigten ihn nur noch mehr. 2000 Goldmünzen, wer sie lebend dem König ausliefert! ,stand in Druckbuchstaben darauf. Darunter die Warnung: Wer die Gestaltwandlerin tötet, hat automatisch Hochverrat begangen und ist als vogelfrei erklärt!
Wenn man ihn finden würde, würde man ihn töten. Er war dem König nichts wert. Nur ein Soldat, der eine Gefangene befreit hatte. Seine Motive spielten keine Rolle. Zumindest blieb ihm so die Folter erspart.
Das Aufblitzen von rötlichem Haar in seinem Augenwinkel riss ihn aus seinen Gedanken. Seine Mutter stand in der langen Schlange vor der Brücke, ihre braune Stute am Zügel. Unbemerkt nickte sie ihm zu. Sie mussten endlich die eine Frage beantworten, die Kilian mehr als einmal aus dem Schlaf gerissen hatte. Hatte der König Liv gefangen genommen?
Er erwiderte den Blick seiner Mutter und nickte ebenfalls, bevor er aus dem Schatten hinaustrat und zielstrebig in das nächste Gasthaus ging. Der Gestank von Bier schlug ihm entgegen und er brauchte einen Moment, um sich an das dämmerige Licht zu gewöhnen. Einige Köpfe drehten sich zu ihm um, doch ein dunkel gekleideter Söldner während der Jagd war keine Seltenheit.
Mit selbstsicheren Schritten ging Kilian zur Bar und bestellte sich eine Flasche Bier. Er bezahlte mit einigen Silbermünzen, die ihm seine Mutter gegeben hatte, bevor er sich an den Tresen lehnte und sich im vollen Schankraum umsah.
Ihm fiel sofort eine Gruppe Männer am anderen Ende des Raumes auf. Einige trugen das Wappen des Königs, andere dunkle Kleidung wie er selbst. Die einzige Gemeinsamkeit war, dass sie alle bis an die Zähne bewaffnet waren. Sie lachten grölend, während sie mit ihren Dolchen ein Ziel an der Wand anvisierten, um zu testen, wer im angetrunkenen Zustand am besten traf. Kilian wunderte es nicht, dass das Ziel eines der Kopfgeldplakate von Liv und ihm war. Die meisten Männer trafen, doch bis jetzt hatte keiner es geschafft Livs Kopf zu durchlöchern.
Kilian nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier. Dann griff er blitzschnell nach einem Dolch in seinem Stiefel und warf ihn in die Richtung des Bildes. Schmetternd blieb die silberne Klinge in der Wand stecken, genau zwischen den Augen der gezeichneten Liv.
Augenblicklich war es im Schankraum still. Alle schauten zwischen ihm und der Wand hin und her. Gelassen nahm Kilian einen weiteren Schluck von seinem Bier, bevor er sich vom Tresen abstieß und den Raum durchquerte, um seinen Dolch aus der hölzernen Wand zu ziehen. Die Stille wurde schon bald zu einem Flüstern, dass immer lauter wurde, bevor die Gespräche wieder aufgenommen wurden.
Als Kilian seinen Dolch wieder in seinem Stiefel verstaut hatte, klopfte ihm einer der Soldaten auf die Schulter. „Nicht schlecht!" ,brummte er und sein nach Alkohol stinkender Atem stieg ihm in die Nase.
Einer der Söldner kam auf ihn zu und stieß mit ihm an. „Wie viele?" ,fragte er interessiert.
Kilian schauderte. Er wusste, was der Söldner meinte. Wie viele Gestaltwandler hatte er bis jetzt in der Zeit der Jagd getötet oder hinter Gitter gebracht?
„Zwei!" ,sagte er betont genervt, als wäre es eine Schande nur zwei kostbare unschuldige Leben geraubt zu haben.
Der Söldner ging auf seinen Ton ein. „Dieses Jahr sind es wenige. Keiner von uns hat mehr als einen erwischt" ,sagte er enttäuscht. Am liebsten hätte Kilian ihm seine grausame Fresse poliert, doch er hielt sich zurück. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um rebellisch zu werden.
Also deutete er mit dem Kopf zu dem Plakat an der Wand und fragte direkt: „Wurde zumindest einer von denen gefangen genommen?"
Der Söldner grinste augenblicklich und Kilian ballte in den Falten seines Umhangs die Hände zu Fäusten. Es war jedoch der Soldat, der antwortete: „Der König und der Lord haben vor drei Tagen mit ihren Soldaten die Brücke passiert. Sie konnten die Gestaltwandlerin in Eletheria gefangen nehmen. Wie dumm von ihr, genau dort hin zu fliehen. Sie hat damit ihr eigenes Todesurteil unterschrieben."
Die Männer prosteten sich lachend zu, während Kilian versuchte die aufsteigende Angst zu unterdrücken. Der König hatte Liv! Das Licht der Hoffnung in seinem Inneren erlosch, noch bevor er wusste, dass es überhaupt dort gewesen war. Der König hatte Liv! In seinem Kopf entstanden Bilder von ihrem verwundeten Körper, ihrem toten Körper. Es kostete ihn alle Mühe, die Gedanken zu verbannen und sich zu zwingen mit den Männern anzustoßen. Er schaffte es nicht mit ihnen zu lachen.
Ein weiterer Soldat musterte ihn interessiert. „Wenn du das nicht wusstest, weißt du wohl auch noch nichts von den Gerüchten, um die Gestaltwandlerin" ,stellte er mit hochgezogenen Brauen fest. Kilian schüttelte den Kopf, doch er ahnte es bereits.
Einer der Söldner warf den nächsten Dolch auf die Wand. Die Klinge durchlöcherte das Plakat knapp über Kilians gezeichnetem Gesicht. „Das ist doch alles Schwachsinn!" ,sagte er laut, bevor er einen zweiten Dolch warf. Dieser verfehlte das Bild.
Einige der Männer lachten, während der Soldat sich zu Kilian beugte und leise sagte: „Ich habe gehört, wie die Soldaten, die mit dem König ritten, darüber geredet haben. Die Gestaltwandlerin ist wohl das einzige Kind des Königs und der Königin von Eletheria. Sie muss irgendwie damals entkommen sein und will nun ihr Geburtsrecht einfordern. Deswegen wollte der König sie so unbedingt hinter Gitter bringen."
Kilian lachte laut, obwohl ihm nicht im entferntesten danach zumute war. „Hörst du dir eigentlich beim Reden zu?" ,fragte er den Soldaten amüsiert und die anderen Männer fingen ebenfalls an über ihn zu lachen. Der Soldat schaute Kilian aus zusammen gekniffenen Augen wütend an.
Kilian grinste zufrieden, bevor er den Rest seines Biers hinunter kippte und lachend in die Runde rief: „Ich gehe dann auch mal eine verschollene Prinzessin suchen!" Und das war noch nicht einmal eine Lüge.

Mit schnellen Schritten verschwand Kilian in den Schatten der Gasthäuser. Er hatte alle Informationen, die er benötigte und doch war er noch beunruhigter als zuvor. Mit jedem Schritt entfernte er sich weiter von der Menschenmenge. Er konnte nicht die Brücke passieren. Er musste fliegen. Kilian hätte es riskiert sich hinter dem Gasthaus zu verwandeln, doch das hatte ihm seine Mutter vor ihrer Trennung wohl wissend ausgeredet.
In seinen Gedanken hörte er immer noch die Worte des Soldaten. Der König hatte Liv und sie waren auf dem Weg nach Vasilias. Drei Tage hatten sie Vorsprung. Selbst als Adler würde Kilian sie nicht mehr einholen können. Er stieß einen Fluch aus, während er bereits im Kopf die Möglichkeiten durchging, um in die Kerker des Palastes von Vasilias einzudringen. Es war so gut wie unmöglich.
Als er weit genug von den Menschen entfernt war, verschwand er hinter einem Baum und blickte sich kurz um. Dann beobachtete er, wie das weiße Licht aufblitzte und sich seine Gestalt veränderte. Kaum hatte er sich verwandelt, schoss er auch schon so schnell er konnte in den Himmel hinauf und über den Fluss hinweg.
Er entschied sich Kreise in einiger Entfernung zu drehen, während er mit den guten Augen des Adlers beobachtete, wie seine Mutter der Kontrolle unterzogen wurde. Ein kleiner Schnitt an ihrem Finger, ein Tropfen rotes Blut, dann durfte sie passieren. Misstrauisch beobachtete Kilian, wie einer der Soldaten ihr ein Taschentuch anbot, doch sie lehnte lächelnd ab. Selbst zu diesen vor Loyalität blinden Männer, konnte sie freundlich sein.
Er folgte ihr unbemerkt, während sie in schnellem Tempo über den steinigen Pfad ritt, wohl wissend, dass er über ihr flog. Bei der nächst besten Gelegenheit verließ seine Mutter die breite Handelsstraße, die Limani, Amyr und Vasilias miteinander verband und verschwand zwischen einigen Bäumen.
Sie war nicht weit geritten, als Kilian in Richtung Boden flog und geradeso mehreren Ästen auswich, bevor er landete und sich zurück in seine eigene Gestalt verwandelte. Seine Mutter bremste ihr Pferd und während sie abstieg, schaute sie ihn verurteilend an. Kilian ließ sie nicht zu Wort kommen.
„Der König hat Liv in Eletheria gefangen genommen und ist mit ihr auf dem Weg nach Vasilias" ,stieß er hervor.
Einige Sorgenfalten bildeten sich auf der Stirn seiner Mutter. „Wie weit sind sie uns voraus?" ,fragte sie nachdenklich.
„Drei Tage" ,antwortete Kilian.
Erneut stiegen die Bilder in ihm hoch. Liv, die mit toten Augen zu ihm aufschaute, während eine silberne Blutlache sich um ihren Körper bildete. Er schüttelte den Kopf, doch die Gedanken wollten nicht verschwinden.
Seine Mutter öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er kam ihr zuvor. „Wir reiten nach Vasilias! Ich kenne den Palast und die Schichtwechsel der Wachen. Wir können es schaffen!" ,sagte er entschlossener, als er sich fühlte. Seine Mutter nickte langsam.
„Du weißt, was das Eindringen in den Palast bedeutet?" ,fragte sie eingehend.
Kilian biss sich auf die Lippe. „Ich kann nicht von dir verlangen mit mir mitzugehen" ,sagte er leise.
Seine Mutter legte eine Hand auf einen ihrer Dolche, die sie an ihrem Gürtel befestigt hatte. „Wenn ich nicht gehe und du stirbst, werde ich mir mein Leben lang Vorwürfe machen. Wenn ich gehe, kann ich wenigstens sagen, dass ich versucht habe dich zu beschützen" ,stellte sie entschlossen klar. Kilian schaute sie an, wie sie vor ihm stand. Mutig und ohne jeden Zweifel!
„Lucien hätte es dir ausgeredet" ,murmelte er lächelnd, bevor er sich in den Sattel des Pferdes zog und seiner Mutter eine Hand entgegen streckte.
„Gut, dass er nicht hier ist" ,antwortete sie grinsend. Dann ließ sie sich von ihm auf den Rücken des Pferdes ziehen.

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt