Kapitel 32

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Fiona hatte den Kopf an das kalte Fenster der Kutsche gelegt und beobachtete, wie die vielen Häuser und Menschen von Vasilias an ihr vorbei zogen. Hauptsächlich waren es reiche Adlige, Beamte oder Minister, die in prunkvollen Schlitten über die gefrorene Straße glitten, aber auch einige Mägde, Diener und Menschen des Mittelstandes schlenderten geschäftig an den kleinen Läden vorbei. Einige Kinder und Lieferanten waren sogar auf Schlittschuhen unterwegs und schlitterten zwischen den Menschen hindurch.
Ein schlaksiger Junge, ungefähr in ihrem Alter, fiel Fiona auf. Er tauchte immer wieder zwischen den Passanten auf und verschwand dann wieder, als hätte man sich seine Anwesenheit nur eingebildet. Er schien zu bemerken, dass sie ihn beobachtete, denn an der nächsten Kurve zwinkerte er ihr verschwörerisch zu, bevor er geschickt einen Geldbeutel aus einer Tasche eines Kaufmanns entwendete und dann wieder verschwand. Ein Taschendieb also!
Crows Stimme riss Fiona aus ihren Gedanken: „Wir sind gleich da. Bist du sicher, dass du die Kutsche verlassen möchtest? Es könnte gefährlich sein."
Fiona musterte Crow für einen Moment. Ihre schwarzen Haare waren wie immer zu einem Dutt hochgesteckt und ein einfacher Mantel schützte sie vor der unbarmherzigen Kälte.
„Ja ich bin mir sicher. Diese Leute dort sind gute Menschen und sie verdienen ihr Schicksal genauso wenig wie mein eigenes Volk" ,sagte sie leise, sodass nur Crow sie hören konnte.
Dann schaute sie wieder aus dem Fenster, wo nun ein langer drahtiger Zaun auftauchte, der sich zwischen den Häuserreihen zu den Dächern empor schraubte. Dahinter konnte sie die ersten heruntergekommenen Hütten erkennen, die unter der frischen Schneeschicht zusammen zu brechen drohten. Neben einem kleinen Kontrollhaus kurz vor dem Zaun blieb die Kutsche ruckartig stehen und Fiona beugte sich leicht vor, um die Stimmen von draußen zu hören.
„Nur Lieferverkehr ab hier!" ,rief eine männliche Stimme.
Kurz darauf kam die Antwort von einem der Wachen, die die Kutsche lenkten: „Wir haben einen Passierschein vom König höchstpersönlich."
Kurz war es still. Dann konnte Fiona wieder die männliche Stimme von draußen sagen hören: „Alles klar! Ihr könnt weiter fahren. Ich schicke euch noch fünf meiner Wachen mit. In den letzten Tagen ist es zu einigen Unruhen gekommen. Der König sollte bereits in Kenntnis gesetzt sein."
Ein Geräusch der Zustimmung, bevor sich die Kutsche wieder in Bewegung setzte und sie ein kleines Tor im Zaun durchquerten.
Etwas in Fiona zog sich schmerzhaft zusammen, als sie die Menschen am Straßenrand sah, die mit großen Augen stehen blieben und die Kutsche musterten. Sie waren alle dünn, hatten eingefallene Gesichter und bestanden eigentlich nur noch aus Knochen und Haut. Es würde einem Wunder gleichen, wenn sie den Winter überlebten. Je weiter sie fuhren, desto zerfallener waren die hölzernen Hütten, aus denen abgemagerte Kinder neugierig hervorlugten, bevor sie von ihren Müttern zurück ins Innere gezogen wurden. Einige zerkratzte Schlitten, die von Männern in verschmutzter Kleidung gezogen wurden, fuhren an ihnen vorbei, gefüllt mit schwarzem Gestein.
Crow hatte wohl ihren Blick bemerkt, denn sie erklärte: „Das ist Kohle! Die Leute hier bauen es in den Bergen ab und liefern es in die Stadt und in den Palast zum Heizen. Bei den Temperaturen hier im Norden ist es über das ganze Jahr hinweg gefragt."
Fiona nickte nachdenklich, bevor Crow leise fortfuhr: „In der Nähe von Limani und Amyr gibt es ebenfalls solche Viertel. In Limani wird dort hauptsächlich Fischfang betrieben, während in Amyr Holz gesammelt und verarbeitet wird. Es ist ein entscheidender Punkt der Wirtschaft dieses Landes. Der König ließ diese Viertel bauen, um nach dem Krieg wieder in die Normalität zurück zu finden."
Fiona riss den Blick von der Straße weg, um Crow anzusehen. Dann fragte sie: „Wie viel verdienen diese Leute?"
Die schwarzhaarige Dienerin wich ihrem Blick aus und starrte auf ihre Hände. „Sie bekommen das Geld für eine Mahlzeit am Tag. Die genaue Menge wird je nach Größe der Familie bestimmt" ,erklärte sie bedrückt.
Fiona schluckte einen Kloß in ihrem Hals herunter. Sie hatte immer gedacht, dass nur die Gestaltwandler unter der Herrschaft des Königs litten, doch das... Es war grausamer, als alles, was sie bis jetzt gesehen hatte.
Die Kutsche stoppte auf einem größeren Platz, der wohl den Marktplatz des Viertels darstellen sollte und eine Wache öffnete Crow und ihr die Tür. Die Kälte schlug ihnen unbarmherzig entgegen und trieb Fiona beinah die Tränen in die Augen. Vorsichtig ließ sie sich von der Wache aus der Kutsche helfen und strich ihren weißen Mantel glatt, den der König ihr bereit gestellt hatte. Dann atmete sie tief durch und schaute sich um.
Die Pflastersteine waren spiegelglatt und einige Kinder in dreckigen und zerrissenen Jacken spielten auf provisorischen Kufen, die sie sich unter die Schuhe gebunden hatten, fangen. Sie lachten glücklich und Fiona beobachtete sie fasziniert, bis ein weiterer Schlitten mit Kohle ihr die Sicht versperrte.
An Crows Seite und von den Wachen flankiert gingen sie langsam über den Platz. Am anderen Ende des Platzes stand ein weiteres Kontrollhaus. Eine lange Schlange aus Männern, Frauen und Kindern stand davor. Sie trugen alle abgetragene und kaum vor der Kälte schützende Kleidung. Keiner drängelte sich vor, doch man spürte die Anspannung, die von den Menschen ausging. „Dort wird das Essen ausgeteilt" ,erklärte Crow, während sie mit ihrer behandschuhten Hand auf das kleine Haus deutete.
Fiona nickte leicht, bevor sie wieder zurück zu den spielenden Kindern sah. Plötzlich entdeckte sie den jungen Taschendieb zwischen ihnen. Er lachte, während er den Kindern auf seinen Schlittschuhen hinterher jagte und so tat als könnte er sie nicht erwischen.
Interessiert betrachtete Fiona ihn genauer. Er trug einen mehrmals geflickten braunen Mantel, ausgelatschte Stiefel und eine verschlissene dunkle Hose. Auf seinen blonden Haaren saß eine karierte Kappe und seine auffällig grünen Augen leuchteten schelmisch.
Fiona runzelte die Stirn, als sie sah, wie seine langen Finger immer wieder unbemerkt in den Taschen der Kinder verschwanden, während er zwischen ihnen herlief. Sie brauchte nicht lange, um das kurze Aufblitzen von Münzen zu erkennen. Er gab den Kindern das Geld, was er in der Stadt von den Wohlhabenden stahl. Ein kurzes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als der Junge sie wissend angrinste und kurz darauf hinter einem weiteren Kohleschlitten verschwand.
Crows Stimme riss sie erneut aus den Gedanken. „Ich muss einige kleine Sachen mit den Wachen dort drüben besprechen. Willst du dich solange alleine ein wenig weiter umsehen?" ,fragte sie geschäftig. Fiona nickte zustimmend, während sie sich fragte, was wohl eine Dienerin mit Soldaten zu besprechen hatte. Sie nahm sich vor, Crow später danach zu fragen.
Nachdem sie ein weiteres Stück flankiert von den Wachen über den Platz gegangen war, sah Fiona den Jungen erneut. Er saß vor einer der Türen der Hütten und entfernte die Kufen von seinen Stiefeln. Er wollte gerade in der Hütte verschwinden, als Fiona ihn zurück hielt. „Entschuldigung! Hallo! Ich bin Fiona. Wie heißt du?" ,rief sie laut. Die Wachen wirkten überrascht, doch sie schwiegen und hielten sie nicht auf, als sie langsam auf den Jungen zu ging, der sich zu ihr umgedreht hatte.
Misstrauisch musterte er die Wachen, bevor er sich selbstsicher vorstellte: „Robin." Ein Grinsen lag auf seinem Gesicht und er zwinkerte ihr zu.
„Ich habe gesehen, wie gut du Schlittschuh fahren kannst und wollte fragen, ob du es mir vielleicht beibringen kannst" ,sagte Fiona, während sie auf die Kufen in seiner Hand deutete.
Er zuckte mit den Schultern, bevor er antwortete: „Klar! Wenn deine Leibwächter kein Problem damit haben."
Ihr entging der Hass nicht, der hinter Robins fragendem Blick lag, doch die Wachen schienen es nicht zu bemerken, denn einer von ihnen nickte zustimmend, während ein anderer Robin einen warnenden Blick zu warf. Fiona wollte erst gar nicht wissen, was die Wachen mit ihm machen würden, wenn er sich auch nur einen Fehler leistete.
Lächelnd setzte sie sich auf die Stufe der Hütte und er half ihr wortlos die Kufen unter ihre dicken Stiefel zu schnallen, bevor er ihr eine Hand entgegen streckte und ihr vorsichtig hoch half. Fiona war noch nie in ihrem Leben Schlittschuh gefahren, doch sie hatte als sie klein war durch das Fenster immer neidisch den Kindern dabei zugesehen, während sie die Decken in den Schlafzimmern ausgeschüttelt hatte. Nur war das Zusehen etwas ganz anderes, als das selber machen.
Schwer stützte Fiona sich auf Robins Arm, während sie stolpernd die Straße entlang glitt und immer schneller wurde. Robin konnte sie gerade so daran hindern mit einer älteren Frau zusammen zu stoßen, die gerade die Gasse zwischen den Hütten überquerte, während die Wachen Mühe hatten mit ihnen Schritt zu halten. Fionas Wunden schmerzten und sie spürte, wie einige kurz davor waren wieder aufzureißen. Sie musste sich beeilen.
Als sie ein weiteres Stück von den Wachen entfernt zum Stehen kamen, sagte Fiona beinah unhörbar: „Ich brauche deine Hilfe!"
Fragend schaute Robin sie an, während sie schnell und leise fortfuhr: „Der König hält mich im Palast fest und ich brauche eine Möglichkeit, um unbemerkt zu fliehen. Am besten so schnell wie möglich. Meinst du du kannst mir helfen?"
Fiona ignorierte die Stimme in ihrem Kopf, die warnend sagte: Tu es nicht, bitte! Du musst warten! Du musst warten!
Sie musste weg von hier und Robin war wahrscheinlich die beste Chance, die sie bekommen würde. Dieser hatte beide Brauen gehoben und schaute sie spöttisch an.
„Wieso sollte ich dir helfen?" ,fragte er leise.
Fiona öffnete den Mund, um zu antworten, als sie plötzlich Crows Stimme vernahm. „Fiona! Ich bin fertig! Wir können wieder zurück" ,rief sie laut vom anderem Ende der Gasse, wo der Marktplatz lag. Im gleichen Moment holten die Wachen zu ihr auf und geleiteten Robin und sie vorsichtig zurück zum Platz, wo Crow auf sie wartete.
Als sie an der Hütte angelangt waren, ließ sich Fiona wieder auf der Stufe nieder. Robin wollte ihr schon helfen die Kufen auszuziehen, als sie ihn zurück hielt.
„Ich mach das schon" ,murmelte sie entschieden, bevor sie ihre Handschuhe von den Händen streifte und anfing die Kufen zu entfernen. Ihr war Robins Blick, der an ihren vernarbten Händen und abgebrochenen Nägeln hängen blieb, vollkommen bewusst, doch das war nicht der Grund gewesen, wieso sie die Handschuhe ausgezogen hatte.
Kurz bevor sie Robin die zweite Kufe wieder gab, strich sie mit dem Finger absichtlich über das scharfe Metall. Sofort riss ihre Haut auf und silbernes Blut trat hervor. Robins Augen weiteten sich überrascht, als sie ihre Hände bereits schnell wieder in ihren Handschuhen verbarg und ihm die zweite Kufe übergab. Das sollte seine Frage beantworten.
Schnell stand sie auf und lächelte ihn an. „Danke für die Hilfe. Es hat wirklich Spaß gemacht. Vielleicht sehen wir uns ja nochmal wieder" ,sagte sie freundlich.
Die Frage stand in ihren Augen geschrieben: Wirst du mir helfen?
Robin grinste sie an. „Unwahrscheinlich" ,sagte er schulterzuckend.
Mit aller Kraft drängte Fiona die Enttäuschung, die in ihren Augen aufflammte zurück, als sie ihm verschwörerisch zuzwinkerte und leise sagte: „Ich bin mir sicher du wirst einen Weg finden."
Dann drehte sie sich um und folgte Crow und den Wachen zurück zur Kutsche.

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt