Kapitel 49

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Die rauschenden Wellen des Meeres krachten gegen die steile Klippe und der pfeifende Wind wehte Liv die Haare ins Gesicht. Der eiserne Halsreif, der noch immer um ihren Hals lag, schien ihr wie so oft die Luft zum Atmen zu nehmen und sie unterdrückte den Drang nach ihm zu greifen. Sie saß auf einem Stein nur wenige Schritte vom Abgrund entfernt und beobachtete die tanzenden Lichter der Hafenstadt Navis, die sich ein Stück weiter nördlich an die Felsen schmiegte. Sobald die Sonne aufging, würden hunderte Schiffe an den Stegen zu sehen sein und Liv konnte nur hoffen, dass der, den sie suchte, sich auf einem von ihnen befand.
Gedankenverloren schloss sie ihre müden Augen, doch kaum war es dunkel um sie herum, erschienen auch schon die Bilder. Die Bilder einer Mutter, die für ihren Sohn ihr Leben gelassen hatte, die sich für die perfekte Königin, die Liv nie sein würde, geopfert hatte.
Eine Woche war es her, seit sie Vasilias verlassen hatten. Eine Woche in der Wildnis, einen Umweg nach dem anderen nehmend, um ihre Fährte zu verwischen. Sie waren nie lange an einem Ort geblieben und hatten sich nur einmal am zweiten Tag in die Nähe eines Dorfes gewagt, wo Kilian für sie eine der Salben aus den kalten Dörfern gestohlen hatte, da sie sich nicht mehr im Sattel hatte halten können. Noch immer schmerzten ihre Rippen bei beinah jedem Atemzug und ihr Hinken war kaum zu verbergen. Trotzdem versicherte sie Fiona jedes Mal, wenn sie fragte, dass es ihr gut ging.
Leise Schritte im Gras hinter ihr rissen Liv aus ihren Gedanken und sie beobachtete, wie Kilian sich neben sie setzte und ebenfalls auf die Stadt hinunter blickte. Er sagte nichts, doch Liv hatte sich bereits an sein Schweigen gewöhnt.
In den ersten Tagen nach Helenas Tod hatte er kein Wort gesagt und selbst mittlerweile redete er nur, wenn es unbedingt nötig war. Er hatte jedoch nicht nur die Worte gemieden. Er hatte auch sie gemieden und Liv hatte ihm den Abstand gegeben, den er brauchte, auch wenn noch so viel Unausgesprochenes zwischen ihnen hing. Sie hatte ihn zu oft verletzt und es würde sie nicht wundern, wenn er sie für den Tod seiner Mutter verantwortlich machte. Sie tat es schließlich selbst.
„Was ist dein Plan, wenn wir in der Stadt sind?" ,fragte er plötzlich und sie schaute überrascht zu ihm auf. Er sah sie immer noch nicht an, doch Liv konnte trotzdem seine haselnussbraunen Augen erkennen, aus denen das Leuchten gewichen war, das sie so gemocht hatte.
„Ich möchte jemanden finden, von dem ich weiß, dass er uns helfen kann. Ich weiß nicht, ob er sich in Navis aufhält, aber ich wusste nicht, wo wir sonst anfangen sollten zu suchen" ,antwortete sie ehrlich. Kilian nickte langsam, doch er erwiderte nichts.
Liv atmete einmal tief ein. Sie musste es einfach sagen. „Wenn du willst, kannst du auch morgen auf ein Schiff steigen und diesen Kontinent verlassen oder du kannst sonst wo hingehen. Du schuldest mir nichts! Wenn schon schulde ich dir Einiges. Fühle dich bitte nicht verpflichtet bei mir zu bleiben, nur weil ich den Titel der Königin von Eletheria trage" ,sagte sie ernst.
Endlich war es raus! Sie wollte nicht, dass Kilian sie verließ, doch es ihm anzubieten war das Mindeste, was sie für ihn tun konnte.
Nun schaute er sie an. So viel Trauer lag in seinen Augen, so viel Wut.
„Ich werde nicht fliehen, wie ein Feigling, Liv!" ,stellte er klar.
Sie schluckte schwer, doch sie hielt seinem Blick stand. „Ich auch nicht mehr" ,flüsterte sie so leise, dass es über das Rauschen der Wellen beinah nicht zu hören war.
Sie schauten sich an und all das, was sie zusammen durchgemacht hatten, all die Erinnerungen durchströmten sie.
„Danke, dass du mich gerettet hast" ,sagte sie lächelnd und so etwas wie Wärme erschien tatsächlich in Kilians Augen, als er ihr zunickte.
Dann zog er etwas aus der Innentasche seines Umhangs hervor und reichte es ihr. Es war das Buch über die Stammbäume der Königsfamilie von Eletheria, ihrer Familie. In dem Ledereinband prangte ein Riss, doch die handbeschriebenen Seiten waren unversehrt. Liv nickte Kilian dankend zu, während sie gedankenverloren über das Buch strich.
„Was machen wir mit Fiona?" ,fragte er plötzlich und wandte den Blick ab. Sofort war die Wärme in seinen Augen wieder verschwunden. Liv folgte seinem Blick über die Schulter und sah zu Fiona hinüber. Das Mädchen saß in eine Decke gewickelt an einen Baum gelehnt und hatte die Augen geschlossen. Liv bezweifelte, dass sie schlief, doch sie hoffte es.
„Ich werde sie nicht noch einmal allein lassen" ,stellte sie klar, bevor sie sich wieder dem rauschenden Ozean zu wandte.
Sie schwiegen eine lange Zeit, bevor Liv wieder sprach: „Ich muss dir noch etwas über den König erzählen." Sie spürte, wie Kilian sie fragend ansah, doch sie schaute nicht zu ihm, als sie ausdruckslos sagte: „Der König ist Kieron von Eletheria... mein Onkel."
Kilian antwortete lange nicht und Liv befürchtete schon er wäre gegangen, doch schließlich sagte er kalt: „Es macht keinen Unterschied. Er hat sein Volk verraten und Tausende abgeschlachtet. Er ist ein Monster und er verdient den Tod."
Monster! Sie würde es wieder gut machen! Irgendwie würde sie es schaffen ihre Schulden zu begleichen und eine Königin zu sein, die es zumindest Wert war für ihr Volk zu sterben. Sie würde nie wieder davor weglaufen, nie wieder davor fliehen.

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt