Kapitel 6

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Liv hatte immer noch ein leichtes Grinsen auf den Lippen, als der Captain sie grob die Treppe hinauf zog. Die dicken Steinmauern wechselten wieder zu den goldenen prunkvollen Wänden des Palastes und das warme Licht der aufgehenden Sonne flutete die breiten Korridore. Doch statt in die Richtung des Thronsaals zu gehen bog der Captain abrupt in einen unauffälligen Gang links von ihnen ein. Liv konnte sich nicht erinnern ihn am gestrigen Tag bemerkt zu haben. Angespannt wanderte der Blick des Captain durch den Gang, während er ihren Arm los ließ und ihr wortlos ihr Schwert reichte. Sie ergriff es und folgte ihm mit festen Schritten an hohen Fenstern und prunkvollen Gemälden vorbei. Der rote samtene Teppich dämpfte ihre Schritte und so gingen sie beinah lautlos nebeneinander her.
Liv lauschte in die morgendliche Stille hinein. Alles wirkte auf einmal so friedlich und das obwohl nur ein paar Meter unter ihnen der Tod regierte. Liv bezweifelte, dass die Adligen, die hier lebten eine Ahnung hatten, was unter dem Palast vor sich ging.
Beinah lautlose Schritte rissen sie aus ihren Gedanken und sie packte instinktiv ihr Schwert fester. Der Captain hatte es anscheinend ebenfalls gehört, denn seine Augen wanderten wachsam über die nächste Abbiegung.
Mit einer leichten Kopfbewegung bedeutete er ihr sich an die goldene Wand zu stellen, während er hinter der Abbiegung verschwand. Livs Herz pochte laut. Wenn es nach ihr gegangen wäre hätten sie wer auch immer dort war bestenfalls sofort getötet, doch der Captain hatte da anscheinend ein wenig andere Prioritäten.
Sie konnte zwei leise Männerstimmen vernehmen, also ein Soldat, die sich nach einem kurzen Wortwechsel langsam entfernten. Ein paar Sekunden verstrichen. Dann lugte Liv vorsichtig um die Ecke. Der Gang war leer. Weder der Captain noch sonst jemand waren zu sehen. Am Ende des Ganges konnte sie jedoch eine offen stehende Tür erkennen, dahinter den zugeschneiten Schlossgarten. Liv brauchte nicht lange, um zu wissen, dass sie nicht auf den Captain warten würde, während die Freiheit nur wenige Meter von ihr entfernt war.
Gerade wollte sie um die Ecke schleichen, als sie plötzlich eine Bewegung nicht weit von ihr entfernt aus dem Augenwinkel wahr nahm. Ihr Mundwinkel wanderte leicht nach oben, während sie unauffällig ihr Schwert fester packte.
Fast im selben Moment blitzte eine Klinge hinter ihr auf, bereit ihren ungeschützten Rücken zu spalten, doch sie wirbelte in beinah unnatürlicher Schnelligkeit herum und parierte den Schlag gekonnt mit ihrer eigenen Klinge. Ihre Arme pochten unter dem starken Aufprall, doch sie hatte bereits zwei Schritte nach hinten gemacht und musterte ihren Angreifer interessiert.
Blondes säuberlich gekämmtes Haar, ein schönes Gesicht und ein amüsiertes Grinsen auf den Lippen. Zayn!
Sie schnaubte vor Wut bei seinem Anblick, während er sein Schwert spielerisch hoch warf und es gekonnt wieder auffing. „Die kleine Diebin! Irgendwie hatte ich im Gefühl, dass du noch Schwierigkeiten machst. Wer hat dich aus deiner Zelle geholt?" ,fragte er interessiert, während er sie mit seinen blauen Augen von oben bis unten musterte.
Liv erwiderte sein Lächeln: „Woher willst du wissen, dass ich mich nicht selbst entlassen habe?"
Zayn ignorierte ihre Worte und fuhr ungerührt fort: „Da bin ich gerade auf dem Weg zu der süßen Gestaltwandlerin und..."
Sie unterbrach ihn mit bedrohlich leiser Stimme: „Ihr Name ist Fiona!"
Ihre Worte hallten laut durch den Gang, während sie mit dem Schwert in der Hand auf Zayn los ging, dessen Grinsen augenblicklich verschwand. Er parierte jeden ihrer wütenden Schläge mit Leichtigkeit und langsam kehrte das Grinsen auf sein Gesicht zurück.
Ja, genau das sollte er von ihr denken! Dass sie von der Wut geblendet wurde.
Gerade als er zum Angriff übergehen wollte, duckte sie sich unter seiner Klinge hindurch und rammte ihm ihr Schwert in die Seite. Er stöhnte auf vor Schmerz, während sich seine silberne Jacke augenblicklich rot färbte. Wut verzerrte sein Gesicht und er schnaubte überrascht.
„Du willst also Blut sehen!" ,er grinste hämisch, „Dann wirst du es bekommen."
Damit sprang er auf sie zu und holte mit seinem Schwert aus. Mit einer solchen Schnelligkeit, trotz seiner Wunde, hatte Liv nicht gerechnet und so konnte sie nur gerade so mit einer Drehung verhindern, dass er nicht ihren Bauch aufschlitzte. Stattdessen traf sein Schwert mit voller Wucht ihren Oberschenkel. Stoff riss und silbernes Blut spritze hervor.
Kurz stolperte sie rückwärts, während Zayn zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor stieß: „Gestaltwandlerin!"
Sie grinste wissend: „Gut erkannt!"
Dann rannte sie auf ihn zu und schlug mit ihrem Schwert weiter auf ihn ein. Ihr Ziel war sein schönes Gesicht über das bei jedem ihrer Schläge, die er parierte, eine weitere Welle aus Wut wanderte.
Wo zum Teufel blieb nur der Captain? Auch wenn sie ihm kein bisschen vertraute, konnte er doch eine große Hilfe darstellen, wenn sie den Palast nicht schwer verletzt verlassen wollte.
Zayn ging in den Angriff über und schlug nun auf sie ein. Keiner seiner Schläge kam auch nur in ihre Nähe, doch jedes weitere Geräusch riskierte, dass gleich eine riesige Gruppe an Soldaten um die Ecke kommen würde und dann konnte selbst der Captain sie nicht mehr vor dem Tod bewahren.
Zayn holte ein weiteres Mal aus, doch statt wieder mit seinem Schwert auf sie einzudreschen, stieß er sie mit seinem Körper mit voller Kraft gegen die gegenüberliegende goldene Wand. Sie keuchte überrascht auf, als er augenblicklich vor ihr stand und ihr sein Schwert an die Kehle hielt.
Schweratmend wägte Liv ihre Chancen ab. Der Plan des Captain, dass niemand erkannte was sie war, war eh im Eimer. Theoretisch konnte sie sich also auch verwandeln.
Sie atmete einmal tief ein bereit sich in einen überdimensional großen Wolf zu verwandeln, gegen den sie mal in den Bergen gekämpft hatte, doch in diesem Moment tauchte der Captain hinter Zayn auf und riss ihn mit ganzer Kraft von ihr weg.
Erleichtert sackte sie ein wenig in sich zusammen, während der Captain Zayn zu Boden schleuderte und ihn mit dem Schwert in der Hand langsam umkreiste.
Zayn schnaubte vor Wut: „Verräter! Wie kannst du es wagen einer Gestaltwandlerin zu helfen."
Der Captain schaute ausdruckslos auf ihn herab. „Wem ich helfe, ist immer noch meine Sache" ,sagte er mit fester Stimme. Dann sprang er so schnell vor, dass selbst Zayn keine Chance mehr hatte irgendetwas zu unternehmen und schlug dem Lord von Amyr so heftig ins Gesicht, dass er bewusstlos in sich zusammen sackte.
Er schaute nicht noch einmal auf Zayn herab, sondern kam mit schnellen Schritten auf sie zu. „Ist alles in Ordnung?" ,fragte er mit Blick auf ihren Oberschenkel.
Liv nickte entschlossen und stieß sich demonstrativ von der Wand ab, während sie mit möglichst festen Schritten in Richtung der immer noch offenen Tür ging. Der Captain folgte ihr.
„Ich konnte die Wachen, die für diesen Teil des Palastes zuständig sind zu einer Unruhe in den Kerkern schicken, doch es wird nicht lange dauern, bis sie bemerken, dass ich sie angelogen habe. Meinst du du kannst rennen?" ,fragte er angespannt.
Statt ihm zu antworten zog sie augenblicklich das Tempo an, während sie durch die offene Tür in den Schlossgarten rannten. Die Kälte schlug ihnen erbarmungslos ins Gesicht, doch Liv blendete bis auf den zugeschneiten Weg, den sie jetzt entlang sprinteten, alles aus.
Der Captain übernahm die Führung. Sie sprangen über niedrige Hecken und Mauern in die Richtung eines kleinen Waldes, der sich an der südlichen Seite des Palastes entlang zog. Ihre Schritte knirschten laut im Schnee und Liv konnte nicht anders als für einen kurzen Moment über ihre Schulter zu spähen.
Eine Gruppe von Soldaten, ungefähr zwanzig Mann, rannten gerade aus der offenen Tür hinaus, aus der auch sie gekommen waren. Die Soldaten konnten sie von ihrem aktuellen Standort nicht sehen, da der Garten stufenförmig angelegt war, doch es würde nicht lange dauern, bis sie ihre Fährte im Schnee ausgemacht hatten.
Liv folgte dem Captain in den kleinen Wald hinein. Der Waldboden war nass, doch es lag dank der dichten Tannen kein Schnee.
Der Captain zügelte ein wenig sein Tempo und führte sie zu ihrer Überraschung ein Stück nach Westen, wo er hinter einigen Felsen stehen blieb. Fragend schaute sie ihn an.
„Wir werden im Schutz der Nacht die Ebene hinter dem Wald überqueren. Die Wachen werden davon ausgehen, dass wir so schnell wie möglich in Richtung Süden fliehen. Hier sind wir also erst einmal einigermaßen sicher" ,sagte er als Antwort. Sie nickte misstrauisch.
Eins war klar. Sie würde sich so schnell wie möglich von ihm trennen und nach Süden fliegen, doch zuerst musste sie die Wunde an ihrem Oberschenkel stillen.
Langsam humpelte sie zu einem der Felsen und ließ sich stöhnend darauf nieder. Jetzt wo das Adrenalin nicht mehr ihren Körper durchströmte, spürte sie auch den brennenden Schmerz, der von ihrem Bein ausging.
Sie hatte Zayn unterschätzt. Ein unglaublich blöder Anfängerfehler!
Vorsichtig schaute sie auf ihren Oberschenkel hinab. Silbernes Blut quoll immer noch daraus hervor und die Klinge hatte nur knapp ihren Knochen verfehlt.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Captain langsam auf sie zukam. Fluchend angelte sie nach ihrem Schwert, das sie auf dem Waldboden fallen gelassen hatte und hielt es ausgestreckt in die Richtung des Captain. Sie würde sich nicht von ihm helfen lassen. So weit würde es nicht kommen! Es reichte schon, dass sie jetzt irgendwie in seiner Schuld stand, nachdem er sie vor weiteren Wunden bewahrt hatte.
Mit hochgezogenen Brauen schaute er sie an. „Halt dich von mir fern oder ich schneide dir die Kehle durch!" ,sagte sie ein wenig zu verzweifelt, doch der Captain blieb wo er war und beobachtete sie nur wortlos, während sie ihr Schwert sinken ließ und sich der Wunde an ihrem Bein widmete.
Sie musste erst einmal dafür sorgen, dass sie besser an die Stelle dran kam und so streckte sie ohne aufzuschauen die Hand in Richtung des Captain aus.
„Gib mir einen Dolch!" ,verlangte sie mit fester Stimme.
Der Captain tat, was sie von ihm verlangte und legte ihr die kalte Klinge wortlos in die ausgestreckte Hand. Sie schloss ihre Finger um das kalte Metall und schnitt vorsichtig den Stoff ihrer Hose zur Seite, sodass sie die Wunde besser begutachten konnte.
Sie war doch tiefer und auch um einiges größer, als sie gedacht hatte. Fluchend schaute sie an sich herab. Sie brauchte irgendetwas, um sie zu verbinden und die Blutung zu stoppen.
In diesem Moment hielt ihr der Captain ein weißes Hemd unter die Nase. „Hier nimm das!" ,sagte er entschieden.
Überrascht blickte sie auf. Der Captain hatte seinen schwarzen Umhang abgelegt und stand nun oberkörperfrei vor ihr. Sie konnte gar nicht anders als seinen sonnengebräunten und muskulösen Körper unbemerkt zu mustern.
Für einen kurzen Moment sagte niemand etwas, dann nahm sie wortlos sein Hemd an und wickelte es fest um ihren Oberschenkel herum. Sofort färbte sich der Stoff silbern und sie musste ein leises Stöhnen unterdrücken. Der Schmerz jagte durch ihren Körper, doch nach nur weniger Zeit ließ er nach und wurde erträglicher.
Der Captain hatte seinen schwarzen Umhang wieder übergezogen und musterte sie prüfend. Sie lehnte sich möglichst gelassen zurück und schaute hämisch grinsend zu ihm hoch.
„Erwartest du, dass ich mich jetzt bei dir bedanke, Captain?" ,fragte sie mit einer Spur Spott in der Stimme.
Der Captain erwiderte zu ihrer Überraschung ihr Grinsen und sagte nur gelassen: „Ich bin kein Captain mehr. Momentan würde ich mich als Verräter bezeichnen, der einer Gestaltwandlerin und Diebin zur Freiheit verholfen hat. Also nenn mich bitte Kilian oder ich schneide dir die Kehle durch!"

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt