Kapitel 17

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Laute Stimmen prasselten auf Liv ein, während sie einen der vollen Marktplätze von Amyr überquerten. Augenblicklich wünschte sie sich in die angenehme Stille des Waldes zurück. So viele Menschen auf einem Haufen hatten sie schon immer beunruhigt, allein schon aus dem Grund, dass man es viel schwieriger hatte zu erkennen wer Freund und wer Feind war.
Kilian lief in seinem schwarzen Umhang, der sein Gesicht verbarg, langsam neben ihr her. Er hatte eine Hand unauffällig auf seine Rippe gepresst und stöhnte bei jedem Schritt leise auf. Liv war überrascht, dass er sich überhaupt noch auf den Beinen halten konnte.
Eine Gruppe Stadtwachen lief am Rand des Platzes vorbei und Liv ließ augenblicklich die braunen Haare ihr Gesicht verbergen. Sie hatte wieder die Gestalt des Mädchens aus der Kneipe angenommen und es so tatsächlich geschafft mit ein paar nichtssagenden Versprechungen Kilian und sie an den Stadtwachen vorbei zu schleusen, die alle Passanten und Händler, die die Stadt betraten, kontrollierten.
Angespannt warf Liv einen Blick auf das riesige Herrenhaus, das wie das Schloss in Vasilias über der Stadt thronte. Es war das Haus von Zayn und sie war nicht sonderlich erpicht darauf auch dort in den dunklen Kerkern zu landen, die tief unter der Stadt verborgen lagen, von niemandem beachtet.
Obwohl Liv noch nie in Amyr gewesen war, hatte sie schon früh gelernt, dass sie diese Stadt, so schön und friedlich sie auch von außen wirkte, lieber meiden sollte. Das war der große Unterschied zwischen den beiden größten Städten der Menschen. Vasilias war die Stadt des Königs, den alle fürchteten. Bis auf die Adligen, die am Hofe arbeiteten und die Diebe, die nachts durch die Straßen streiften, blieb niemand lange in Vasilias. Es war nie eine Stadt des Volkes gewesen und es würde auch nie eine werden. In Amyr hingegen lebten mehr Kulturen als man sich vorstellen konnte. Menschen aus allen Schichten, einige aus Ländern jenseits aller Karten.
Diebe und Waldläufer mieden die Stadt. Sie waren die Einzigen, die den Schatten beachteten, der stets auf jedem Platz und in jeder Gasse lauerte. Es waren die Wände der Häuser, die Ohren zu haben schienen. Egal, wer sich in Amyr aufhielt, die Stadtwachen und der Lord schienen es zu wissen.
Kilian, der unauffällig auf eine Gasse deutete, riss sie aus ihren Gedanken. Sie nickte ihm leicht zu zum Zeichen, dass sie verstanden hatte und folgte ihm in das Labyrinth der vielen Häuser hinein. Augenblicklich wurde es dunkler, denn die tief hängende Nachmittagssonne erreichte nicht mehr das raue Kopfsteinpflaster, dem sie vorsichtig folgten. Die Stimmen vom Platz hallten zwischen den hohen Häuserwänden wieder und ihnen begegneten nur noch wenige Menschen, die geschäftig an ihnen vorbei liefen. Kilian hatte ihr nicht erzählt, was er genau vor hatte, doch um ihn danach zu fragen war es nun zu spät.
Nach genau drei Abbiegungen nach links und einer nach rechts, sie hatte mitgezählt für den Fall, dass es Probleme gab, blieb Kilian vor einem unscheinbarem Laden stehen. Vorhänge verbargen das Innere des Hauses, doch über einer hölzernen Tür stand in schnörkliger Schrift Heiler. Misstrauisch musterte Liv Kilian von der Seite.
„Ich hoffe du weißt, was du tust" ,sagte sie beinah unhörbar.
Kilian schnaubte leise: „Du musst mir wohl vertrauen." Allein das Wort ließ sie, sich ruckartig zu ihm umdrehen, doch sie unterdrückte eine weitere Bemerkung, während sie sich immer wieder in Gedanken rief, dass sie verdammt nochmal vorsichtig sein mussten.
Kilian atmete einmal tief ein, bevor er an die hölzerne Tür trat und die verrostete Klinke nach unten drückte. Aus dem Inneren des Ladens war nichts zu hören und so trat Liv mit einer Hand an ihrem Schwert an Kilian vorbei und in die Dunkelheit des Raumes.
Sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, vernahm Liv eine männliche Stimme aus einer Ecke des dunklen Raumes: „Ich bin Heiler, wenn ihr kämpfen wollt, Fräulein, dann seit ihr hier an der falschen Adresse."
Sie brauchte einen Moment, um sich an das schummerige Licht zu gewöhnen, doch sie nahm langsam die Hand von ihrem Schwert. Ein Mann mittleren Alters trat hinter einem Tresen hervor und musterte sie misstrauisch. Er hatte schwarzes langes Haar, das er zu einem Zopf zusammen gebunden hatte und einen drei Tage Bart, der sein Gesicht irgendwie alt aussehen ließ. Er trug eine einfache Tunika und eine dunkle Hose, die seine muskulöse und hochgewachsene Statur jedoch nicht im geringsten verbargen. Allgemein wirkte er auf Liv nicht gerade wie ein Heiler.
„Wenn ihr vorhabt mich auszurauben, muss ich euch enttäuschen. Hier gibt es nichts zu holen" ,sagte der Mann, während er lässig seine Arme vor der breiten Brust verschränkte.
Liv wollte schon etwas erwidern, das herablassende Grinsen bereits auf dem Gesicht, als Kilian neben sie trat und die Kapuze seines Umhangs herunterzog. „Lange nicht gesehen Lucien" ,sagte er schmunzelnd.
Das Gesicht von Lucien veränderte sich augenblicklich und ein breites Lächeln erschien auf seinem sonnengebräunten Gesicht. Dann kam er mit schnellen Schritten auf Kilian zu und umarmte ihn stürmisch, der schon im selben Moment schmerzerfüllt aufstöhnte. Vorsichtig ließ Lucien von ihm ab und eine besorgte Falte erschien auf seiner Stirn.
„Was hast du nun schon wieder angestellt?" ,fragte er kopfschüttelnd, während er Kilian bedeutete ihm in ein Hinterzimmer zu folgen.
„Lange Geschichte" ,murmelte dieser, während er Lucien mit schnellen Schritten folgte.
Liv schloss sich ihnen an, während sie sich immer wieder fragte woher sich die beiden Männer wohl kannten. So wie sie sich begrüßt hatten vermutete sie ein Teil der Familie. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie ihn für Kilians Vater gehalten.
Das Hinterzimmer bestand aus einem einfachen Bett und einer kleinen Kommode, auf der eine vertrocknete Pflanze stand. Wie selbstverständlich streifte Kilian Umhang und Hemd ab und ließ sich auf das Bett sinken. Liv schluckte beim Anblick des noch größer gewordenem Blutergusses unterhalb seiner muskulösen Brust und auch Lucien zog scharf die Luft ein.
„Wie lange bist du mit der Rippe noch gelaufen?" ,fragte er, während er mehrere kleine Fläschchen aus einer Schublade der Kommode herausholte und auf das Bett legte.
„Einen Tag" ,antwortete Kilian, während er sich der Länge nach auf der Matratze ausbreitete. Lucien fluchte leise, bevor er kurz im Laden verschwand.
Fragend schaute Liv Kilian an. „Wer ist er?" ,fragte sie leise.
„Ein guter Freund meiner Mutter" ,erklärte Kilian, gerade als Lucien wieder auftauchte mit einer weißen Tinktur und einer Schüssel Wasser in der Hand. Er ließ sich auf der Bettkante nieder und fing an die Tinktur gemischt mit dem Wasser auf dem Bluterguss zu verteilen.
Liv hatte kaum eine Ahnung von Heilung, doch diesen beißenden Geruch hätte sie überall wieder erkannt. Ihr Blick schweifte ab, während sie an die Kämpfe in den Arenen zurück dachte. Diese Tinktur hatten auch die Heiler dort benutzt. Sie war extra für die Kämpfenden in den Arenen erfunden worden, um die Wunden so schnell wie möglich zu heilen, ohne das Folgeschäden entstanden und natürlich damit die Kämpfe so schnell wie möglich wieder aufgenommen werden konnten.
Mit glasigem Blick fragte Liv leise: „Woher haben sie diese Tinktur?"
Lucien schaute überrascht auf, so als hätte er sie erst jetzt bemerkt und auch Kilian musterte sie fragend. „Ich wüsste nicht was sie das angeht, Fräulein" ,sagte der Heiler langsam.
Liv schaute in die dunklen Augen von Lucien, während sie leise murmelte: „Die kalten Dörfer. Waren sie schonmal dort?"
Verwirrt schüttelte der Mann den Kopf. „Ich habe es einem Händler aus Vasilias abgekauft" ,erklärte er. Liv nickte leicht. Dann folgte Stille, in der Liv verzweifelt versuchte irgendwie die aufkeimenden Erinnerungen wieder zu verdrängen.
Kurz fing sie einen besorgten Blick von Kilian auf, der anscheinend verstanden hatte, was los war, doch sie wich seinem Blick aus, während Lucien ernst fragte: „Was ist passiert, Kilian? Wieso verfolgt dich der König?"
Kilian schien nicht sonderlich überrascht zu sein, dass Lucien Bescheid wusste. Er atmete hörbar aus bevor er in knappen Worten ihre bisherige Flucht zusammen fasste. Irgendwie schaffte er es sogar weder zu erwähnen, dass Liv ebenfalls eine Gestaltwandlerin war, noch dass sie aus den kalten Dörfern stammte. Und sie war ihm dankbar dafür. Er überließ ihr die Entscheidung, auch wenn Lucien vermutlich ersteres schon wusste, denn nachdem Kilian geendet hatte, drehte er sich langsam zu ihr um.
„Das ist nicht deine wahre Gestalt, oder?" ,fragte er ernst. Sie schüttelte den Kopf, machte jedoch keine Anstalten ihm ihr wahres Aussehen zu zeigen, weshalb Lucien sich nach kurzer Zeit des Schweigens wieder Kilian zu wandte.
„Ich vermute mal du hast deine Gründe, weshalb du einer Diebin vertraust, Kilian, Gestaltwandlerin hin oder her. Was habt ihr nun vor?" ,fragte er, während er Liv mit einem misstrauischen Blick bedachte.
„Wir werden zu Mutter gehen und bei ihr für die Tage der Jagd bleiben" ,erklärte Kilian.
Lucien nickte leicht. „Bringt sie nicht in Gefahr!" ,flüsterte er leise.
Die Worte ließen Liv aufhorchen. Wie nah sich Kilians Mutter und dieser Heiler auch standen, egal schien Lucien Kilians Mutter nicht zu sein.
„Was werdet ihr dann tun?" ,fragte der Heiler nach einer kurzen Zeit des Schweigens weiter.
„Ich weiß es noch nicht, doch ich habe noch nicht aufgegeben, Lucien. Ich werden den König oder wer auch immer er ist töten!" ,sagte Kilian mit vor Wut zusammen gebissenen Zähnen.
Liv, die während seiner Worte im Raum langsam auf und ab gelaufen war, hielt augenblicklich inne. „Sag das nochmal!" ,verlangte sie mit gerunzelter Stirn. Verwirrt schauten Kilian und Lucien sie an. „Du sagtest, du würdest den König oder wer auch immer er ist töten. Was meinst du mit wer auch immer er ist, Kilian?" ,fragte sie angespannt weiter.
Nun schaute auch Lucien Kilian fragend an. Dieser sah erst dem Heiler dann Liv tief in die Augen, bevor er leise sagte: „Ich studiere seit ich vierzehn bin die Nacht, in der es geschah und ich habe zwei Jahre lang an der Seite des Mannes gestanden, der Vater ermordete. Mir sind verschiedene Fragen aufgefallen, auf die es keine logische Antwort gibt, wenn dieser König noch immer der ist, der wir glauben. Wie konnte er als Mensch denn nur ansatzweise eine Chance gegen die Königsfamilie von Eletheria gehabt haben? Es war nur eine kleine Gruppe, die den Palast damals stürmte. Wieso ist die Frau des Königs mit dem neugeborenen Prinzen nach jahrelanger Treue zu ihrem Mann auf einmal in der gleichen Nacht geflohen? Das alles macht keinen Sinn!"
Liv schluckte leicht, während sie im Kopf die Puzzleteile zusammensetzte, auf die sie nie eine Antwort gefunden hatte.
Dann schaute sie Kilian und Lucien ernst an: „Der König ist ein Gestaltwandler!"

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt