Kapitel 5

881 66 6
                                    

Nachdem der König gegangen war, suchte Kilian ein paar seiner Sachen zusammen. Er wusste genau, dass es nichts bringen würde ein paar Stunden zu schlafen, denn er würde mit Sicherheit kein Auge zu machen. Während er das Gespräch mit dem König und die Begegnung mit der Gestaltwandlerin noch einmal im Kopf durchkaute, sammelte er seine Dolche und Schwerter, die verstreut in seinem Zimmer herumlagen, ein. Die meisten verbarg er gekonnt unter seiner schwarzen Kleidung.
Interessiert betrachtete er auch die Waffen, der Diebin, die er ihr abgenommen hatte. Mehrere einfache Dolche, nichts der Rede wert, doch an ihrem Schwert blieb sein Blick etwas länger hängen. Den silbernen Griff zierte eine Figur in Form eines Falken. Er hatte die Flügel weit ausgebreitet und seine Augen lagen in der Ferne. Es war eine wunderschöne Arbeit. Vermutlich hatte sie es geklaut.
Kopfschüttelnd steckte er es ebenfalls an seinen Gürtel, während er langsam ans Fenster trat, das immer noch offen stand. Eiskalte Winterluft wehte herein und er fröstelte augenblicklich. Die weißen Vorhänge wehten um ihn herum und unter ihm breitete sich Vasilias mit all seinen Lichtern aus.
Gedankenverloren schaute er nach Süden, wo helle Laternen die ordentlichen Straßen und die angrenzenden Villen beleuchteten. Dort hatten seine Soldaten den Mann geschnappt, der die Diebin verraten hatte. Sollte Kilian ihm dankbar sein? Schließlich wäre er ohne ihn nicht auf die Gestaltwandlerin gestoßen. Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Der Mann hatte es verdient in den Kerkern zu sterben. Er war ein Feigling, wie so viele Menschen, denen er in den letzten Jahren begegnet war.
Langsam ließ er seinen Blick nach Norden schweifen. An den Vorläufern des Gebirges schmiegten sich alte heruntergekommene Hütten dicht an dicht. Das Armenviertel oder vielmehr eine Art Sklavenlager. Ein riesiger Zaun trennte es von der restlichen Stadt, so als dürften die Menschen, die dort lebten auf keinen Fall auch nur in die Nähe des Palastes und den wohlhabenderen Bürgern der Stadt kommen. Die meisten von ihnen arbeiteten in den Minen am Gebirge und kämpften jeden Tag um das blanke Überleben. Er war nicht selten dort gewesen. Hatte die abgemagerten Kinder, die um etwas zu essen bettelten, ignorieren müssen.
Sie waren keine Gestaltwandler. Sie waren alle Menschen, doch wurde in ihren Familien silbernes Blut nachgewiesen, weshalb sie automatisch seit dem Krieg einen niederen Stand in der Gesellschaft hatten und keine Chance auf ein besseres Leben als in solchen Armenvierteln. So weit Kilian wusste gab es drei von diesen Vierteln, alle durch einen Zaun von der Außenwelt abgeschnitten.
Vor dem Krieg und bevor die Menschen anfingen sich für etwas besseres und die Gestaltwandler für eine Bedrohung zu halten, lebten beide Arten in Frieden überall in den beiden Ländern verstreut. Verbindungen durften jedoch nur zwischen einem Mensch und einem Gestaltwandler eingegangen werden, niemals zwischen zwei Gestaltwandlern. Dieses Recht galt nur der Königsfamilie von Eletheria, was sie automatisch zu den mächtigsten Gestaltwandlern machte, denn es verlieh ihnen besondere Kräfte. Niemand wusste genau, welche das waren, doch man munkelte sie könnten sich im Gegensatz zu normalen Gestaltwandlern auch bei Kälte verwandeln, was sie bereits um Längen mächtiger machen würde.
Kälte war das einzige bekannte Mittel, das die Kräfte von Gestaltwandlern abschwächte und ab einem gewissen Grad ganz verschwinden ließ. Das war auch das Mittel, welches der König im Krieg verwenden ließ, meist in Form von eiskaltem Wasser. Kilian fragte sich, wie der König es geschafft hatte die Königsfamilie zu töten, wenn das Gerücht stimmte. Eine dieser vielen Fragen, die er sich schon seit Kindesalter stellte und die ihn dazu gebracht hatten jemand anderen zu spielen und als Captain hier am Hof zu arbeiten.
Das Schlage einer Uhr riss ihn aus seinen Gedanken. Im Osten lag bereits ein leichter Schimmer am Horizont. Die Sonne würde bald aufgehen und wenn sie am Abend wieder unter ging, hatte er hoffentlich zusammen mit der Gestaltwandlerin bereits die Stadt hinter sich gelassen und war auf dem Weg nach Süden.
Er atmete noch einmal tief ein, bevor er das Fenster schloss, den Sitz seiner Waffen ein letztes Mal überprüfte und sein Zimmer mit schnellen Schritten verließ.

~

Liv starrte unentwegt in die Dunkelheit. Sie hatte ihre Arme fest um ihren Körper geschlungen und doch fror sie bis auf die Knochen. Fiona war irgendwann eingeschlafen und seit dem lauschte Liv ihrem flachen und unregelmäßigen Atem.
Ihr war voll und ganz bewusst, dass das Mädchen kurz vor dem Sterben stand. Sie spürte förmlich den Tod, der sie umgab und über seine Beute wachte.
Liv hatte Fiona gefragt, ob sie mit ihnen fliehen wollte, auch wenn sie wusste, dass das Mädchen mit ihren Verletzungen eine Last werden konnte. Fiona war keine Kämpferin, wie Liv es war. Sie war sanft und unschuldig. Sie glaubte an die Götter, die sie schon bald erlösen würden und an das Gute in jedem Menschen.
Liv hatte schon früh gelernt, dass es so etwas wie gute Menschen nicht gab. Ihnen ging es nur um Macht und wenn sie jemanden fanden, der ihnen ihre Macht rauben könnte, dann taten sie alles, um ihn daran zu hindern. So war es immer und so würde es auch immer sein. Daran konnten auch irgendwelche Götter nichts ändern.
Fiona hatte auf ihr Angebot hin nur den Kopf geschüttelten und mit fester Stimme gesagt: „Ich wäre euch nur eine Last. Du solltest dich um die Lebenden sorgen nicht um die, die bereits halb tot sind und deren Schicksal besiegelt wurde."
Sie klang viel zu alt für ihre 15 Jahre. Liv wünschte Fiona hätte noch die Chance auf ein glücklicheres und unbeschwerteres Leben als dieses. Das Mädchen hätte es verdient, allein wegen ihres guten Herzens.
Ein leises Quietschen durchschnitt die Stille und Fiona schreckte auf der anderen Seite des Gitters ängstlich hoch, um gleich wieder mit einem schmerzerfüllten Stöhnen zu Boden zu sinken. Liv bewegte sich nicht. Sie hoffte nur inständig, dass es der Captain war und nicht Zayn.
Schritte hallten über den Flur hinter den dicken Eisentüren und schummriges Licht erhellte ein wenig die Zelle. Liv versuchte möglichst nicht auf das Blut zu starren, das immer noch den Boden bedeckte und so schaute sie stattdessen in Fionas Gesicht, die sie ebenfalls interessiert musterte. Fionas blondes Haar lag verschmutzt und abgestumpft auf ihren Schultern, ihre Wangenknochen stachen deutlich hervor und ihr Körper war von blutigen Wunden übersät. Wahrscheinlich war sie mal schön gewesen, doch jetzt war ihr Anblick kaum noch zu ertragen. Zu viele Folter hatte sie ertragen müssen.
Das Licht wurde mehr und flutete jetzt ihre Zelle, während hoffentlich der Captain vor Livs Zelle stehen blieb und den Schlüssel langsam im Schloss herum drehte. Sie nickte Fiona kurz zu, bevor sie kraftvoll aufstand und für den Fall, dass es Zayn war, sie ihm mit voller Kraft ins Gesicht schlagen konnte. Doch es war nicht Zayn, der in der Tür auftauchte, sondern tatsächlich der Captain, der sie jetzt mit hochgezogenen Brauen musterte.
„Wolltest du mir eine scheuern?" ,fragte er mit einer Spur Spott in der Stimme.
Liv verdrehte die Augen, doch sie erwiderte nichts, während sie ihren Dolch aus ihrem Stiefel zog und ihn Fiona hinhielt.
„Hier! Verunstalte das Gesicht vom Lord von Amyr so gut wie möglich, sodass ich seinen Anblick beim nächsten Mal besser ertragen kann" ,fügte sie mit einem grausamen Grinsen auf den Lippen hinzu.
Fiona wollte protestieren, doch bei Livs Blick nickte sie unsicher und nahm den Dolch vorsichtig entgegen. „Ich wünsche euch viel Glück! Auf das die Götter euch helfen werden" ,flüsterte sie leise.
Die Götter würden ihnen nicht helfen. Das war Liv klar, doch sie nickte knapp, bevor sie sich wieder dem Captain zu wandte.
Dieser löste ein Schwert von seinem Gürtel und warf es ihr zu. Es war ihr eigenes, das er ihr in der Kneipe abgenommen hatte. Lächelnd strich sie über den Falken an dem silbernen Griff, während der Captain leise zischte: „Wir müssen uns beeilen, sonst laufen wir an den Seitenausgängen nicht nur einem Haufen Wachen in die Arme, sondern vermutlich auch Zayn. Also komm!"
Liv nickte bestimmt. Dann lächelte sie Fiona ein letztes Mal zu, die immer noch am Gitter kniete und verschwand mit den Worten: „Zeig es dem Mistkerl!"
Sie wusste nicht, ob das junge Mädchen nickte oder noch etwas erwiderte, denn sie folgte dem Captain mit schnellen Schritten auf den steinigen Gang hinaus. Ihren Umhang ließ sie zurück.

Schweigend gingen sie den dunklen Gang entlang. Eine Fackel in der Hand des Captain erhellte die dicken Steinwände und die eisernen Türen, die den Gang säumten. Ihr Schwert lag fest in ihrer Hand, bereit zu kämpfen und zu töten.
Vor der großen Tür am Ende des Ganges hielt der Captain noch einmal inne.
„Wir tun so, als hätte mich der König gebeten dich zu holen. So sollten wir zumindest aus den Kerkern heraus kommen. Sobald wir auf die Seitengänge zugehen müssen wir hoffen, dass uns keiner begegnet, sonst könnte es zu Problemen kommen" ,erklärte er entschieden, während sein Blick zu ihrem Schwert wanderte.
Liv grinste blutrünstig: „Ein bisschen hoffe ich ja, dass uns Zayn über den Weg läuft."
Der Captain schüttelte den Kopf und während er sich der Tür zuwandte und den Schlüssel im Schloss drehte, sagte er nur: „Glaub mir, das wäre nicht gerade vorteilhaft für deine Freiheit, Liv."
Es verwirrte sie für einen Moment, dass er ihren Namen aussprach, doch als er die Tür öffnete, fegte das Adrenalin, das ihren Körper durchströmte und glücklicherweise auch die Kälte verschwinden ließ, jegliche Gedanken beiseite.
Mit schnellen Schritten stiegen sie die steinige Treppe in den erhellten Raum hinauf. Liv versuchte möglichst nicht auf den Tisch zu gucken, wo Fiona vor nur wenigen Stunden noch gelegen hatte. Sie würde Zayn töten. Das stand fest! Und sie würde sich so viel Zeit nehmen, wie ihr beliebte. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie stehen geblieben war, als der Captain sie energisch weiter zog.
Leise fragte er ohne sie anzusehen: „Wieso hast du das Mädchen nicht getötet?"
Liv überlegte kurz. Wieso hatte sie Fiona nicht erlöst? Wieso hatte sie sie dieser wahrscheinlich letzten Folter überlassen? „Ich weiß es nicht" ,flüsterte sie, „Ich glaube selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich es nicht gekonnt." Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Captain sie fragend anschaute, doch sie hatte keine andere Antwort für ihn.
Den restlichen Weg aus den Kerkern hinaus sprach keiner von ihnen ein Wort. Nur ihre Schritte auf dem steinigen Boden und das gedämpfte Stöhnen der Gefangenen hallte in den Gängen wider. Immer noch war Liv sich nicht komplett sicher, ob der Captain sie nicht doch nur an der Nase herum führte, doch warum sollte er. Sie war bereits im Schloss gefangen und ihr ein Schwert zu geben war, falls es tatsächlich eine List war, schier lebensmüde.
Als sie die letzte Tür erreichten, hinter der Liv mindestens zwei Wachen vermutete, nahm der Captain ihr ihr Schwert wieder ab und packte sie mit festem Griff am Unterarm. Sie wehrte sich nicht, während er dreimal gegen die Tür klopfte und eine der zwei Wachen vom Tag zu vor ihm sofort öffnete. Schnell trat er hinaus und schleifte sie grob hinter sich her.
Die beiden Soldaten hatten von der langen Nacht dunkle Ringe unter den Augen und es fiel ihnen schwer sich nicht auf ihren Schwertern abzustützen.
Der Ältere der beiden musterte Liv mit zusammen gekniffenen Augen, während er in die Richtung des Captain interessiert bemerkte: „Ist der König noch nicht mit ihr fertig? Sie sieht für eine Nacht ganz unten mehr als frisch aus."
Liv grinste ihn nur süffisant an: „Das scheint nur. Die Schminke von gestern hält fabelhaft."
Der Soldat wirkte anscheinend über ihre Gerissenheit überrascht, doch er wandte sich nur kopfschüttelnd ab, während der jüngere Soldat mit möglichst fester Stimme, die seine Angst ihr gegenüber nicht ganz überdeckte, leise sagte: „Dann hoffen wir mal, dass sie wenn sie beim König war, nicht mehr ganz so frisch aussieht." Der andere Soldat fing lautstark an zu lachen, doch stockte er augenblicklich als er merkte, dass Liv ebenfalls amüsiert grinste.
Bevor die Situation noch eskalieren konnte, zog der Captain sie energisch die Treppe hinauf, während er an die beiden Soldaten gewandt noch rief: „Die Ablöse kommt gleich. Wir sehen uns!" Sie hörte noch, wie die beiden Männer bei den Worten des Captain erleichtert aufstöhnten, bevor der Gang unten an der Treppe aus ihrem Sichtfeld verschwand.

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt