Kapitel 19

652 64 0
                                    

Es war bereits dunkel als Lucien Walker vom Markt zurückkehrte. Mit einem Korb voller Vorräte unterm Arm betrat er seinen kleinen Laden. Kilian und die Gestaltwandlerin, er wusste noch nicht einmal ihren Namen, hatte er kurz nach ihrem Gespräch im Hinterzimmer zurück gelassen. Er hatte sich gefreut Kilian nach so langer Zeit wieder zu sehen, doch hatte er sich um ehrlich zu sein andere Umstände gewünscht.
Als er vor wenigen Tagen zum ersten Mal das Gerücht gehört hatte, dass der Captain der königlichen Wachen mit einer Gestaltwandlerin geflohen war, hatte er es nicht geglaubt. Es passte einfach nicht zu dem Kilian, der jeden seiner Schritte mit bedacht und einem sicheren Plan tat. Irgendetwas hatte sich geändert und Lucien war sich nicht sicher, ob es an dieser Kriegerin lag, denn das war sie definitiv, oder an der Erkenntnis, dass der König ein Gestaltwandler sein musste.
Er hörte Kilian mit der Frau leise reden. „Wann bist du darauf gekommen, dass der König ein Gestaltwandler ist?" ,fragte sie gerade, als Lucien die Vorräte auf der Theke ablegte.
„Da war dieser Moment kurz bevor wir flohen. Der König hatte mich in meinem Zimmer erwartet, doch keiner der Wachen draußen hatte ihn bemerkt. Dann war noch das Fenster offen und nachdem er merkte, dass ich dabei war eins und zwei zusammen zu zählen hat er sofort versucht abzulenken. Ich glaube da ist es mir klar geworden" ,erwiderte Kilian nachdenklich.
Lucien hörte wie sie schnaubte. „Und du bist nicht auf die Idee gekommen mir davon zu erzählen?" ,fragte sie bedrohlich leise, sodass es Lucien kalt den Rücken hinunter lief. Sie hatte etwas an sich, dem er sich nicht sicher war, ob es auf der gleichen Seite wie Kilian und er stand.
Doch Kilian lachte nur leise auf und antwortete beinah gelassen: „Ist ja nicht so, als hätte ich dir nichts anvertraut. Einer Diebin, einer Mörderin, die hunderte Mauern um sich errichtet hat, durch die sie niemanden hindurch lässt. Ist es nicht so Liv?"
Kaum hatte Kilian die Worte ausgesprochen, stürmte die Gestaltwandlerin aus dem Zimmer, an Lucien vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen und aus dem Laden heraus. Er vernahm ein genervtes ausatmen, sobald die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war. Dann war es still.
Leise holte Lucien einen Apfel aus dem Korb heraus, bevor er langsam zu Kilian ins Zimmer trat. Der Mann, den er schon immer wie seinen eigenen Sohn behandelt hatte, hatte die Augen geschlossen und die Hände auf sein Gesicht gelegt. Er sah müde aus.
Ohne ein Wort ließ Lucien sich auf der Bettkante nieder und hielt Kilian den Apfel hin. „Hier iss das!" ,murmelte er leise. Dankend nahm Kilian den Apfel entgegen.
„Ich glaube deine Mutter wird sie nicht ins Haus lassen" ,sagte Lucien schmunzelnd, während er Kilian dabei beobachtete wie er den Apfel mit nur wenigen Bissen verschlang.
Er lachte nicht als er leise sagte: „Sie hat mir mehr als ein mal das Leben gerettet. Mutter wird keine andere Wahl haben."
Lucien sagte nichts dazu, stattdessen fragte er: „Ihr Name ist Liv?"
Kilian nickte leicht. „Sie hat mehr Schreckliches gesehen, als wir beide zusammen." ,murmelte er gedankenverloren.
Lucien konnte nicht anders als zu schmunzeln. „Du magst sie" ,stellte er grinsend fest.
Kilian lachte sarkastisch auf. „Wie kann ich jemanden mögen, der mich hasst?" ,fragte er kopfschüttelnd. Kilian war schon immer ein guter Schauspieler gewesen.
Lucien lächelte wissend. „Ich glaube sie hasst jeden, doch keinen mehr als sich selbst" ,flüsterte er leise.
Jetzt war er derjenige, der in Gedanken versunken war. So wie diese Frau war er auch mal gewesen. Kurz davor zu zerbrechen, von Gedanken geplagt, die er niemanden gegenüber aussprechen konnte. Betrogen und verletzt von einem Menschen, den er dachte zu kennen. Damals hatte ihn erst der Tod von Kilians Vater klar gemacht, dass all diese Gedanken nichts weiter als Egoismus gewesen waren. Seit dem hatte er nie wieder so gedacht.
Er schaute zu Kilian, der ihn aus erschöpften Augen ansah. „Schlaf ein wenig! Wenn du Glück hast könnt ihr morgen bei Anbruch der Nacht aufbrechen" ,sagte er leise, bevor er das Hinterzimmer verließ und sich im Laden einen Platz zum Schlafen suchte.

~

Wütend lief Liv vor dem kleinen Laden des Heilers auf und ab. Wie konnte Kilian nur so etwas zu ihr sagen? Sie hatte ihm mehr als einmal das Leben gerettet, war mehr als einmal kurz davor gewesen ihm an die Kehle zu springen und doch wich er nicht vor ihr zurück. Und genau das machte ihr Angst. So viel Angst, dass sie wie ein Feigling aus dem Laden gerannt war.
Am liebsten hätte sie sich in der Gestalt des Falken in den dunklen von Sternen übersäten Himmel geschwungen, doch sie wagte es nicht, wagte es nicht in dieser Stadt auch nur irgendetwas zu tun, dass sie hätte verraten können.
Die hohen Häuser schienen auf einmal so gefährlich nah und sie raufte sich fluchend das wunderschöne braune Haar, das sie sich doch am liebsten vom Kopf gerissen hätte. Sie hasste diese Gestalt, hasste diese Stadt, hasste die Menschen, die so unbeschwert durch die Straßen gingen, als hätte sich seit dem Krieg nichts geändert, sie hasste Kilian und Lucien, die einander hatten und so unglaublich vertraut zusammen wirkten, doch am meisten, am meisten hasste Liv sich selbst für ihre eigene Feigheit. Was auch immer diese Welt für sie bereit hielt, sie war es nicht.
Langsam atmete sie die kühle Nachtluft ein und wieder aus. Dann schaute sie in den Himmel zu den Sternen, zu den Fernen Lichtern der Toten. Wie viele wohl dort oben leuchteten und sich nur das Schlechteste für sie wünschten und dann die Wenigen, die etwas von ihr erwarteten, dass sie nicht konnte. So oft hatte sie in den Sternenhimmel geschaut und sich ein anderes Leben gewünscht, doch nie hatten die Götter, an die sie eh den Glauben verloren hatte, sie erhört. Es gab so viel Folter und Leid in dieser Welt und die Götter taten gar nichts.
Für einen kurzen Moment schloss Liv die Augen und verbannte all diese Gedanken, die sie Tag für Tag plagten zurück in den hintersten Winkel ihrer Erinnerungen, sodass sie nur noch ein blinder Fleck in purer Dunkelheit waren. Dann öffnete sie die Augen wieder und atmete noch einmal tief ein, bevor sie wieder in den Laden des Heilers trat.

Bis auf einer Kerze, die auf der Theke stand war es stockfinster in dem kleinen Raum. Zwischen zwei Regalen, die von oben bis unten mit kleinen Fläschchen und anderen Arzneimitteln vollgestellt waren, konnte sie eine dunkle Gestalt erkennen, die leise schnarchte. Es war Lucien, der auf einer Decke schlief, die er auf dem harten Holzboden ausgebreitet hatte.
Leise, um den Heiler nicht zu wecken, nahm Liv die Kerze von der Theke herunter und ging weiter ins Hinterzimmer. Sie sah Kilian mit geschlossenen Augen auf dem Bett liegen. Seine nackte Brust hob und senkte sich regelmäßig. Der Bluterguss war bereits ein bisschen heller geworden. Auch wenn der Zweck dieses Heilmittels noch so brutal war, wirkte es und zwar ziemlich gut.
Vorsichtig stellte Liv die Kerze neben dem Bett ab und schaute sich nach einer Decke um, auf der sie schlafen konnte. In einer der Schubladen der Kommode fand sie wonach sie suchte. Eine alte ein wenig durchlöcherte Decke. Die musste für diese Nacht wohl reichen.
Die leise Stimme von Kilian ließ sie erschrocken aufschauen. „Es tut mir Leid. Was ich gesagt habe, war nicht in Ordnung" ,flüsterte er.
Seine haselnussbraunen Augen musterten sie besorgt. Sie hasste diesen Blick von ihm, so als würde er sich ernsthaft um sie sorgen. Niemand hatte sich je um Liv gesorgt. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie solche Angst davor hatte.
Doch sie schluckte ihre Bedenken hinunter und murmelte ohne ihn anzusehen: „Du hast ja Recht."
Denn das hatte er. Seine Worte hatten genau das ausgesprochen, was sie unter all der Wut und dem Hass zu verbergen versuchte. Gedankenverloren ließ sie sich auf dem harten Holzboden nieder, ihren Rücken gegen das Bett gelehnt.
„Bis jetzt haben mich diese Mauern immer davor bewahrt den Verstand zu verlieren. Ich habe so viele Leben beendet. Ob ich mich dabei verteidigt habe, spielt Schluss endlich keine Rolle. Ich bin eine Mörderin und bis vor kurzem war ich sogar stolz darauf" ,sagte sie mehr zu sich selbst als zu Kilian, der sich bei ihren Worten vorsichtig aufrichtete, sodass er sie ansehen konnte.
„Es spielt keine Rolle was wir waren. Es kommt darauf an was wir sind, Liv" ,sagte er leise und ein leichtes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.
Liv schaute ihn nicht an, als sie sagte: „Die Leute vergessen nicht. Sie werden dich immer als dein schlimmstes Selbst betiteln, auch wenn du es nicht mehr bist."
Kilian schnaubte belustigt. „Seit wann bitte interessiert du dich dafür, was die Leute von dir denken?" ,fragte er grinsend.
Überrascht schaute Liv ihn an und ein leichtes Grinsen breitete sich auch auf ihrem Gesicht aus, als sie leise sagte: „Stimmt auch wieder!"
Erst jetzt fiel ihr auf wie nah sie sich waren, doch sie wich nicht vor ihm zurück, als er mit einer Hand eine braune Strähne aus ihrem Gesicht strich.
„Ich muss schon sagen, dein loses Mundwerk und diese Gestalt passen überhaupt nicht zusammen" ,murmelte er leise, während seine Hand noch ein wenig länger an ihrer Wange verweilte, bevor er sie schnell wieder zurück zog.
Sie schmunzelte leicht. „Glaub mir mein eigener Körper wäre mir auch lieber" ,sagte sie schulterzuckend, während sie die durchlöcherte Decke unter sich ausbreitete und sich eine bequeme Position auf dem harten Boden suchte.
Kilian lächelte immer noch, während er leise anmerkte: „Ich würde ja mit dir tauschen, was das Bett angeht, aber ich glaube dann sind wir in einer Woche noch hier."
Grinsend blies Liv die Kerze aus. „Glaub mir ich habe schon an schlimmeren Orten geschlafen" ,flüsterte sie in die Dunkelheit hinein, bevor sie nach nur kurzer Zeit erschöpft in einen unruhigen Schlaf fiel.

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt