Kapitel 23

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Erst am Nachmittag erreichten Kilian und Liv die ersten Bäume und Sträucher, die ihnen den Weg zum Fluss weisen würden. Der steinige Weg ging in harte Erde über und sogar ein Eichhörnchen kreuzte ihren Weg. Kilian hatte einen Arm um Liv gelegt und seit ihrer kurzen Rast am Morgen hatte er nicht mal daran gedacht ihn auch nur für einen Moment zurück zu ziehen. Liv hatte sich nicht beschwert. Sie hatte generell kein einziges Wort gesagt, sondern nur ihren Kopf an seine Brust gelehnt und ihren Blick über den Horizont wandern lassen. Kilian war sich nicht sicher, ob sie sein klopfendes Herz gespürt hatte, das bei ihrer Berührung wild gegen seine Brust geschlagen hatte und ehrlich gesagt wollte er es auch gar nicht wissen. Sie hatten definitiv größere Probleme.
Kilian war sich beinah sicher, dass Zayn mittlerweile von ihrer knappen Flucht aus Amyr wusste, auch wenn er ihnen nicht über die kahle Ebene zu folgen schien. Vermutlich nahm er den Weg über die Brücke und würde ihnen im Schattenwald auflauern oder er würde irgendeinen anderen Weg finden, um sie nicht entkommen zu lassen, denn dafür war ihm sein Stolz zu wichtig.
Das leise Rauschen des Flusses, das von Schritt zu Schritt lauter wurde, riss ihn aus seinen Gedanken und auch Liv hob langsam den Kopf an. Vögel flogen über ihnen hinweg und die Bäume und Sträucher wurden immer dichter. Grünes Gras erstreckte sich über den Boden und der erschöpfte Hengst unter ihnen schnaubte glücklich. Kilian atmete tief ein, als der tödliche Schatten, der über der kahlen Ebene lag, endlich hinter ihnen zurück blieb und das Rauschen des Flusses bereits so laut war, dass es die Geräusche des umliegenden Waldes übertönte.
Als er bereits das reißende Wasser zwischen den Bäumen erkennen konnte, stoppte er den braunen Hengst und schwang sich aus dem Sattel. Seine Hand blieb um Livs Körper geschlungen, bevor er sie, ohne dass sie auch nur die Chance hatte zu widersprechen, ebenfalls vom Pferd hob und sie erst losließ, als sie einigermaßen sicher neben ihm stand.
Dann nahm er die beiden Flaschen aus der Satteltasche, reichte eine an Liv weiter und hängte sich die andere an seinen Gürtel. Wasser würden sie noch brauchen, wenn sie innerhalb von zwei Tagen den gesamten Schattenwald durchqueren wollten.
„Was machen wir mit dem Pferd?" ,fragte Liv, während sie dem Hengst sanft über den schweißnassen Hals strich.
„Über den Fluss bekommen wir ihn nicht" ,stellte Kilian mit gerunzelter Stirn fest, bevor er entschlossen die Riemen des Sattels löste und das schöne Pferd von Zügeln und Sattel befreite, die er neben einem Baum im Unterholz versteckte.
„Du bist frei" ,murmelte er, bevor er dem Hengst einen leichten Klaps auf die Flanke gab und beobachtete wie er zwischen den Bäumen davon galoppierte.
Dann bot er Liv seinen Arm an, um sie das letzte Stück bis zum Fluss zu stützen, doch sie würdigte sein Angebot nicht eines Blickes und ging stattdessen mit möglichst sicheren Schritten zwischen den Bäumen hindurch und auf den Fluss zu. Kilian schüttelte leicht den Kopf, bevor er ihr schnell folgte.

Das Rauschen war ohrenbetäubend, als Kilian auf einem leicht erhöhten Felsen neben Liv zum Stehen kam. Kleine Wassertropfen spritzten ihm ins Gesicht, während er beobachtete, wie die Sonnenstrahlen das stürmische Wasser vor ihnen zum Glitzern brachten. Der Fluss war deutlich breiter, als Kilian ihn in Erinnerung hatte und auch die Strömung schien in den letzten regnerischen Monaten stärker geworden zu sein. Als Mensch diesen Fluss zu überqueren war unmöglich. Nicht umsonst war vor Jahrhunderten die Brücke weiter östlich errichtet worden, um auch allen Menschen den Weg ins Reich der Gestaltwandler möglich zu machen.
Es war nicht das erste Mal, dass Kilian den Fluss an dieser Stelle überquerte. In der Gestalt eines Fisches war es geradezu ein Kinderspiel und die warme Sonne, die ihm ins Gesicht schien würde auch die Verwandlung für ihn nicht gerade schwierig machen.
Er schaute zu Liv, die aus irgendeinem Grund leicht angefangen hatte zu zittern. Auch ihr Gesicht war durch ihre eh schon helle Haut beinah weiß und ihre Augen waren starr auf das wilde Wasser gerichtet.
Kilian runzelte fragend die Stirn, als sie leise fragte, sodass er es durch das Rauschen des Flusses beinah nicht gehört hätte: „Wir müssen schwimmen, oder?"
Er nickte langsam. Fliegen war mit ihrem Arm keine Option. Als sie ihn ansah stand blanke Panik in ihren sturmgrauen Augen, die so überhaupt nicht zu ihr zu passen schien.
Kilian unterdrückte den Impuls sie in den Arm zunehmen und fügte stattdessen hinzu: „In der Gestalt eines Fisches ist es wirklich einfach. Du musst dich eigentlich nur treiben lassen und warten, bis du das andere Ufer erreichst."
Eine leichte Welle spülte plötzlich über ihren Felsen und Liv sprang so abrupt zurück, dass sie beinah auf den glatten Steinen ausgerutscht wäre, hätte Kilian sie nicht blitzschnell am gesunden Arm gepackt und zurück auf die Wiese gezogen.
Silbernes Blut durchnässte die Leinen an Livs anderem Arm, als ihre Knie unter ihr nachgaben und sie sich schweratmend auf die Wiese fallen ließ. Immer noch leicht zitternd schlang sie sitzend die Arme um ihre Beine und legte die Stirn auf ihre Knie. Langsam setzte Kilian sich neben sie ins Gras und sah ihr dabei zu wie sie versuchte ihre schnelle Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Ihre Nägel krallten sich so fest in ihre Beine, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
Er berührte sie nicht und redete nicht auf sie ein, denn das hätte ihm höchstwahrscheinlich einen Dolch an seiner Kehle eingefangen. Er wartete bloß und ließ ihr die Zeit, die sie brauchte, um sich selbst wieder einigermaßen zu beruhigen.
Einige Minuten vergingen, bevor sie langsam ihren Kopf hob und auf die Wiese zu ihren Füßen starrte. „Das Wasser... es..." ,sie brach ab.
Kilian schaute sie offen an. „Es macht dir Angst" ,beendete er ihren Satz.
Kurz sah sie ihn an. Dann nickte sie, bevor sie ihren Blick wieder auf die Wiese richtete.
Leise fing sie an zu erzählen: „Ich war fünfzehn und der Star in der Arena. Niemand konnte mich besiegen und dann kämpfte ich gegen diesen Jungen. Ich hatte am Tag zuvor seinen Bruder im Kampf beinah getötet und er war so vom Zorn geblendet, dass ich nicht einmal eine Minute brauchte, um ihn wehrlos zu machen. Ein paar Tage später stieß er mich ohne Vorwarnung von einem der Felsen am Meer. Ich hatte keine Chance zu reagieren. An diesem Tag wäre ich beinah ertrunken."
Kilian musste schlucken und er wandte den Blick von ihr ab, um seine rasenden Gedanken zu beruhigen. Dann fragte er leise: „Wer hat dich gerettet?"
Liv schaute ihn nicht an, als sie ausdruckslos erwiderte: „Die Kriegerin, von der ich dir erzählt habe, die mich ausgebildet hat. Ich weiß nicht wie sie es geschafft hat, doch sie konnte mich an den Strand ziehen, obwohl ich bereits das Bewusstsein verloren hatte. Sie hat dem Jungen auch einen Tag später auf dem Dorfplatz vor aller Augen die Kehle durchgeschnitten, als Warnung für diejenigen, die auch nur daran dachten mir je etwas anzutun."
Fassungslos schüttelte Kilian den Kopf. Erst jetzt wurde ihm bewusst wie kaputt sie in ihrem Inneren sein musste. Den Tod als stetigen Begleiter an ihrer Seite, der alle diejenigen bedrohte, die ihr zu nahe kamen.
Livs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Sie schaute ihn jetzt offen an, ließ ihn all die Angst und Panik in ihren Augen sehen. Er war sich sicher, dass nicht jeder diese Seite von ihr kannte, wenn überhaupt jemand sie je so gesehen hatte.
„Ich kann nicht dadurch" ,sagte sie beinah unhörbar. Kilian wusste, dass sie nicht nur das Wasser meinte, sondern auch die Panik, die abgrundtiefe Angst und die Erinnerungen an das, was gewesen war.
Er nickte entschieden, bevor er aufstand, zum Felsen zurück ging und seinen Blick über den umliegenden Fluss wandern ließ. Etwas weiter entfernt ragten mehrere Felsen aus dem Wasser empor. Den Abstand zwischen ihnen zu überwinden würde nicht einfach werden, doch es war zumindest besser als nichts.

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt