Kapitel 14

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Die eiskalte Nachtluft zerrte an Livs Flügeln, während sie sich über dem kleinen Dorf in den nächtlichen Himmel schraubte, hinauf zu den hellen Sternen. Sie atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Das war Freiheit! Das Einzige, was man ihr noch nehmen konnte, denn mehr von dem, was sie liebte, war nicht übrig geblieben, war eigentlich nie wirklich da gewesen.
Als sie den eiskalten Wind kaum noch aushalten konnte, breitete sie ihre Flügel aus und glitt über die Wiesen und Wälder hinweg, die sie in der Dunkelheit kaum noch erkennen konnte. Da waren nur die Sterne und sie.
Die Erinnerungen an den Jungen kreisten immer noch in ihrem Kopf, doch sie schloss sie in eine der vielen Türen ein und schmiss den Schlüssel in eine tiefe Spalte, wo sich bereits Hunderte auf einem Haufen türmten.
Das Ignorieren und Vergessen hatte schon immer gut funktioniert, ansonsten hätte sie bestimmt schon vor Jahren den Verstand verloren. Vielleicht hatte sie ihn jedoch auch schon längst verloren, schließlich bezeichnete sie Tod und Schmerz als ihre ständigen Begleiter.
Sie verwarf den Gedanken sofort wieder und konzentrierte sich stattdessen auf das weite Land unter ihr, über das sie nun hinweg segelte. Eine Eule flog kreischend zwischen den Bäumen hervor und ein Fuchs hatte sich im Schutz eines umgestürzten Baumes mit etwas im Maul, das so aussah wie eine Maus, niedergelassen.
Alles war friedlich und still und sie genoss es sich einfach mal für einen kurzen Moment keine Gedanken über irgendetwas machen zu müssen. Nicht über den König, nicht über Kilian, der in den letzten zwei Tagen einige ihrer Gedanken beansprucht hatte. Denn für den Moment zählte nur eines: Sie war frei und sie schwor sich, dass das auch so bleiben würde, egal wie viele Soldaten des Königs sie verfolgten!
Plötzlich stieg ihr der Geruch von Rauch in die Nase und riss sie aus ihren Gedanken. Abrupt blieb sie in der Luft stehen und schaute sich misstrauisch um. Wald so weit das Auge reichte und am Horizont die Lichter des Dorfes. Sonst war nichts zu sehen. Im Stillen verfluchte sie alle Flügeltiere, deren Geruchssinn mehr als zu wünschen übrig ließ, denn sie roch zwar weiterhin den beißenden Gestank des Rauches, doch sie konnte weder sagen woher der Geruch kam, noch wie weit seine Quelle entfernt war.
Langsam glitt sie, knapp über den Baumkronen hinweg, über den umliegenden Wald, den Blick nach unten gerichtet. Dunkle Tannen, vereinzelt eins zwei kahle, schneebedeckte Bäume, deren Äste sich ihr entgegenzustrecken schienen und plötzlich ein warmes Licht, welches zwischen einigen Tannen hervor blitzte. Beinah hätte sie es übersehen.
Vorsichtig flog sie einen Bogen um die Stelle, bevor sie mit lautlosen Flügelschlägen unter die Baumkronen hinab sank und sich vorsichtig dem Licht näherte. Sicher war es nur einer der Waldläufer, der sich mit einem Feuer zu wärmen versuchte, doch hielt ein Feuer nicht nur warm, sondern lockte auch Tiere an, denen man normalerweise aus dem Weg ging und die meisten Waldläufer waren nicht so naiv ihnen allein gegenüber zu treten.
Mittlerweile war Liv so nah, dass sie Stimmen vernehmen konnte. „Der Süden ist jetzt komplett abgesichert, Mylord. Sie werden den Fluss nicht erreichen" ,hörte sie eine raue Männerstimme sagen.
Eine herablassende und sichtlich genervte Stimme antwortete: „Das will ich für euch hoffen! Der König will die Gestaltwandlerin und den Verräter so schnell wie möglich gefasst haben. Nicht auszudenken, was er mit euch macht, wenn sie euch entwischen."
Bei den Worten des Mannes blieb Liv abrupt in der Luft stehen und ihre Augen weiteten sich. Sie kannte diese Stimme! Am liebsten hätte sie direkt wieder umgedreht und wäre irgendwo in der Nacht verschwunden, doch sie zwang sich lautlos auf einem breiten Ast zu landen und vorsichtig um den dicken Stamm herum zu spähen.
Auf einer kleinen Lichtung zwischen den Tannen brannte ein Lagerfeuer, um das mehrere Männer herum standen. Soldaten des Königs, denn sie trugen Rüstungen, die mit dem Wappen von Vasilias bestickt waren. Liv schluckte leicht, während sie ihren Blick weiter über das Schauspiel wandern ließ. Die Männer hatten alle den Rücken zu ihr gedreht und schauten abwartend einen weiteren Mann an, der im Schatten der Bäume stand, weshalb Liv nicht sagen konnte, wer er war. Am Rande der Lichtung konnte sie mehrere Pferde erkennen, die den Kopf gesenkt zwischen den Bäumen schliefen.
Die Stimme von einem Soldat, der ihrem Ast am nächsten war, ließ ihren Blick wieder zu den Männern wandern: „Aber Mylord, wenn ihr eine Frage gestattet. Woher wissen wir, dass die Fliehenden zusammen geblieben sind?"
Einige der anderen Soldaten zogen bei den Worten ihres Kameraden scharf die Luft ein. Anscheinend war es normalerweise keine gute Idee die Befehle dieses Lords zu hinterfragen. Dieser trat nun aus den Schatten in den Kreis des Feuers hinein und Livs Puls beschleunigte sich bei seinem Anblick augenblicklich, denn dieser Lord war niemand geringerer als Zayn höchst persönlich. Er trug eine seiner silbernen Jacken, sein blondes Haar lag wie immer perfekt auf seinen Schultern und an seiner Seite hingen abgesehen von seinem Schwert noch zahlreiche Dolche.
Wut packte Liv, während Zayn mit seinen blauen Augen den Soldaten, der gesprochen hatte, herausfordernd musterte. „Du wagst es die Befehle des Königs zu hinterfragen?" ,fragte er bedrohlich leise und Liv spürte förmlich, wie die Luft unter ihr knisterte.
Der Soldat antwortete nicht. Er wagte noch nicht einmal Zayn richtig in die Augen zu sehen. Dieser ging nun mit energischen Schritten auf den Mann zu, wobei er bei jedem Schritt deutlich humpelte. Wäre Liv gerade in der Gestalt eines Menschen gewesen, hätte sie wohl vor Schadenfreude laut gelacht. Wie es aussah war die Wunde an Zayns Seite doch nicht so spurlos an ihm vorbei gegangen wie sie es im Kampf noch gedacht hatte.
Die nächsten Worte von Zayn holten sie wieder in die Realität zurück. „Sieh mich an!" ,rief er, während er dem Soldaten, der Liv mittlerweile ein wenig Leid tat, einen Dolch an die Kehle hielt. Die Männer auf der Lichtung, einschließlich Liv selbst, hielten die Luft an.
„Nur zu deiner Information" ,zischte Zayn währenddessen, „Der Captain hat der Gestaltwandlerin zur Freiheit verholfen. Somit steht sie in seiner Schuld. Außerdem wurden gestern die Leichen von zwei unserer Leute entdeckt. Kaltblütig ermordet! Wenn meine Vermutungen stimmen und der Tod der Männer geht auf das Konto der Fliehenden, dann sind sie vermutlich hier in der Nähe in einem der Gasthäuser. Um deine Frage also zu beantworten: Ich kenne Kilian. Ich habe zwei Jahre an seiner Seite gekämpft und gefoltert und wenn ich eins gelernt habe, dann dass er nichts ohne Grund tut. Er wird die Gestaltwandlerin nicht befreit haben, um sie dann gehen zu lassen. Dafür ist er zu schlau!" Kaum hatte Zayn das letzte Wort gesprochen ließ er von dem Soldaten ab, der daraufhin erleichtert aufatmete.
„Fünf von euch gehen mit mir die westlichen Dörfer durchsuchen. Der Rest die östlichen. Wenn ihr einen der Beiden findet nehmt sie gefangen. Schlagt die Gestaltwandlerin bewusstlos und bringt sie so schnell wie möglich zum König. Verstanden?!" ,rief Zayn über die Lichtung, während er zu den Pferden hinüber ging und einen majestätisch aussehenden schwarzen Hengst bestieg. „Natürlich Mylord!" ,kam kurz darauf einstimmig die Antwort der Soldaten. Dann wurde das Feuer ausgetreten, Schwerter eingesammelt und die Pferde bestiegen.

Erst als das Hufgetrappel schon weit entfernt war, löste Liv sich aus ihrer Starre, die sie seit Zayns Worten fest auf dem Ast gehalten hatte. Ihr Herz pochte immer noch laut gegen ihre Brust und sie starrte unentwegt auf die nun dunkle Lichtung.
Zayn war tatsächlich nicht einfach nur ein Sadist, der es liebte ihres gleichen zu foltern. Er war schlau und er hatte allein durch Vermutungen beinah ihren genauen Standort heraus gefunden. Innerlich verfluchte Liv sich, dass sie die Leichen der zwei Soldaten nicht weggeschafft hatte. Langsam löste sie ihre Krallen von dem dicken Ast, wobei sie deutliche Rillen auf dem Holz zurück ließ. Wut pulsierte durch ihre Adern. Es war fast ein Wunder gewesen, dass sie Zayn nicht direkt an die Kehle gesprungen war.
Tief sog sie die eiskalte Nachtluft in ihre Lungen. Alles war gut! Zayn hatte sie nicht bemerkt und sie war zumindest für den Moment vor ihm und dem König sicher.
Mittlerweile war das Schlagen der Hufen komplett verstummt und die friedliche Stille hatte sich wieder über den Wald gelegt. Zwischen den Blättern über Liv blitzten die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages hervor und der Gesang eines Vogels ließ die Waldtiere aus ihren Höhlen kriechen. Alles um sie herum erwachte.
Vermutlich würde Kilian ebenfalls bald... Liv stockte bei dem Gedanken an ihn und ihre Augen weiteten sich. Zayn wollte die Gasthäuser, der umliegenden Dörfer durchsuchen und in genauso einem Gasthaus schlief Kilian. Selbst wenn er Zayn kommen hören würde, säße er in ihrem Zimmer unter dem Dach in der Falle.
Im selben Moment hatte Liv sich auch schon mit zwei kräftigen Flügelschlägen über die Baumkronen befördert und flog in unglaublicher Schnelligkeit in die Richtung des Dorfes, das durch die Laternen in den Straßen deutlich am Horizont zu erkennen war. Der eiskalte Wind schlug ihr unbarmherzig ins Gesicht und obwohl die Sonne schien setzte kurz darauf leichter Schneefall ein. Liv verfluchte das Wetter, verfluchte Zayn, verfluchte einfach alles, während sie sich verbissen gegen den Wind stemmte.
In ihren Erinnerungen suchte sie nach einem möglichen anderen Flügelwesen, das schneller war als der Falke, doch ihr fiel nicht ein einziges ein, das es zusätzlich auch noch mit dem Wind hätte aufnehmen können, der von Meter zu Meter stärker zu werden schien. Durch das dichte Blätterdach unter ihr hatte sie keine Chance Zayn oder die anderen Soldaten zu erkennen. Sie konnten direkt unter ihr reiten und sie würde sie nicht bemerken.
Mittlerweile hatte Liv die ersten Häuser des Dorfes erreicht und die leeren, steinigen Straßen breiteten sich unter ihr aus. Erleichtert atmete sie auf, als sie weder Zayn noch einen der anderen Soldaten erkennen konnte, doch auch sonst hatte noch keiner der Bewohner einen Fuß vor die Tür gesetzt oder gar die Fensterläden der Häuser geöffnet.
Die Sonnenstrahlen schnitten durch den Schnee, der vom Himmel fiel, wie ein scharfes Messer und erhellten den großen Platz, den sie nun endlich erreicht hatte. Über einem der Marktstände legte sie eine scharfe Kurve ein, bevor sie durch das immer noch offen stehende Fenster, durch das sie das Gasthaus auch verlassen hatte, hindurch segelte. Die Dunkelheit des Zimmers schlug ihr augenblicklich entgegen und sie brauchte ein paar Sekunden, um sich an das trübe Licht zu gewöhnen.
Sie hatte noch nicht einmal den Boden erreicht, als bereits weißes Licht um sie herum aufleuchtete und sie sich wieder in ihre Menschengestalt verwandelte. Krachend landete sie auf dem morschen Holzboden. Jetzt waren auch die Gäste, die im Keller schliefen wach! Doch um sich selbst zu verfluchen war später noch Zeit.
Mit zwei schnellen Schritten hatte sie das Bett erreicht und beugte sich über Kilian, der friedlich schlafend auf dem Rücken lag. Sie überlegte nicht lange und schüttelte ihn an den nackten Schultern, während sie leise zischte: „Wach verdammt nochmal auf!"

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt