Kapitel 45

532 50 8
                                    

Die nächsten drei Tage nach dem Fest verstrichen viel zu schnell. Fiona hasste es nichts tun zu können, während sie darauf wartete, dass Robin mit guten Nachrichten zurück kehren würde. Der König hatte sie nicht mehr aufgesucht und sie hatte die Tage damit verbracht im Palast umherzustreifen, jedoch immer in Begleitung ihrer Wachen oder Crow.
Einmal war Fiona Zayn in den Gängen begegnet, doch er hatte sie nicht eines Blickes gewürdigt und war mit wutverzerrtem Gesicht an ihr vorbei gelaufen. Als Fiona die Wachen fragte, woher er gekommen war, sagten sie mit einem Grinsen auf den Lippen, er verbringe in den letzten Tagen viel Zeit in den Kerkern, um vermutlich die Gestaltwandlerkönigin leiden zu sehen. Fiona wurde schlecht bei dem Gedanken an Liv. Wie lange würde sie die Folter noch aushalten? Wie lange würde es dauern, bis der König entschied sie umzubringen?
Zusätzlich zu der Sorge um Liv kamen noch die Blicke der Adligen, Minister und Soldaten, die ihren Weg kreuzten. Die Meisten musterten sie mit Misstrauen, manche auch mit Neugierde in den Augen, doch am Ende neigten sie alle knapp den Kopf vor ihr. Sie war nicht mehr die mysteriöse Lady, die niemand kannte. Sie war die auserwählte Prinzessin des Königs, die den Lord von Amyr früher oder später heiraten würde. Fiona versuchte lieber nicht daran zu denken, dass genau das passieren könnte, wenn Robin keine Möglichkeit zur Flucht fand.
Gedankenverloren strich sie das hellblaue Kleid glatt, in das Crow ihr am Morgen hinein geholfen hatte, während sie beobachtete, wie die Sonne hinter den Fenstern ihres Gemachs ihren Zenit erreichte. Nachdenklich betrachtete Fiona ihre dürren Hände. Ihre Nägel waren nachgewachsen, doch die feinen Narben würden für immer bleiben. Mittlerweile hatte sich auch die letzte Wunde an ihrem Körper, dank des Heilers, der sie verabscheute, geschlossen, doch die Wunden in ihrem Inneren, die Nacht für Nacht immer wieder aufrissen und bluteten würden wohl nie wieder heilen.
Fiona hatte mit niemandem darüber gesprochen, doch sie fürchtete sich davor die Augen zu schließen, denn dann erlebte sie immer und immer wieder die schrecklichen Momente, in denen sie sich gewünscht hatte zu sterben. Zayn, der sie grinsend in ihre Zelle stieß, sodass ihre Beine unter ihr nachgaben und sie zusammen brach, ihr Ehemann über ihr, wie er sich alles nahm, selbst das, was ihm nicht gehörte, ihre Mutter, wie sie ihren letzten Atemzug tat und sie für immer verließ,... All diese Momente waren Wunden, die niemals heilen würden.
In manchen Nächten schlief Fiona wenig, in manchen gar nicht. Crow sah die dunklen Ringe unter ihren Augen, doch jedesmal bedeckte sie sie schweigend unter der Farbe, die sie auf ihr Gesicht auftrug, sodass es sonst niemand sah.
Früher, als Fionas Mutter noch lebte, als sie noch vom Leid der Welt verschont gewesen war, hatte Fiona es geliebt die Augen zu schließen und zu träumen. Von entfernten Königreichen, von wunderschönen Feen, die sie vor dem Mann, für den sie und ihre Mutter arbeiteten, retteten, von einer Welt, wo die Menschen in Frieden leben konnten.
Wenn Fiona jetzt die Augen schloss, sah sie bloß Krieg und all die Monster, die die Unschuldigen abschlachteten. Sie hatte nie etwas anderes als den Krieg gekannt und die Hoffnung, dass sie einmal den Frieden erleben würde, schwand von Tag zu Tag.
Stimmen vor ihrem Zimmer rissen sie aus ihren Gedanken und sie wirbelte herum, gerade als Robin mit einem Tablett auf dem Arm den Raum betrat. Ein Lächeln erschien auf ihren Lippen und als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und ebenfalls grinste, keimte eine weitere Blüte der Hoffnung in ihr auf.
Er stellte das Tablett mit ihrem Mittagessen, das ihr bisher immer Crow gebracht hatte, vorsichtig auf dem Tisch ab, bevor er mit schnellen Schritten auf sie zu kam und leise sagte: „Heute Abend! Kannst du dafür sorgen, dass du ohne deine Wachen in der Nähe des Eingangs zu den Kerkern wartest?"
Fionas Augen weiteten sich vor Überraschung und sie nickte schnell. Dann fragte sie leise: „Wie werden wir es machen?"
Robin grinste über beide Ohren, während er flüsternd antwortete: „Ich hatte eine kleine Unterhaltung mit dem Captain und ich glaube seiner Mutter. Sie wollen die Gestaltwandlerkönigin befreien und im Gegenzug dafür, dass ich ihnen helfe, werden sie auch dir zur Flucht verhelfen und dich in Sicherheit bringen." Ihre Überraschung wuchs. Der Captain war tatsächlich gekommen, um Liv ein zweites Mal zu befreien.
Tausend Fragen lagen ihr auf der Zunge, doch Robin fuhr noch leiser als zuvor fort: „Du wirst es nicht glauben, aber der Captain ist auch ein Gestaltwandler! Ich frage mich, wie er es geschafft hat das über die Jahre geheim zu halten, die er am Hof gelebt hat."
Fionas Mund stand nun offen vor Überraschung, doch wenn sie genauer darüber nachdachte machte es fast Sinn. Der Captain hatte nie an einer Jagd Teil genommen, er hatte nie Gestaltwandler getötet und gefoltert, wie Zayn es getan hatte und schlussendlich floh er mit der Königin von Eletheria selbst aus dem Palast. Ob er gewusst hatte, wer Liv war?
Fiona wollte alles wissen und sie wollte gerade anfangen Robin mit Fragen zu bombardieren, als die Tür zu ihrem Zimmer ein weiteres Mal aufging und plötzlich Crow im Rahmen stand und erstarrt zwischen ihr und Robin hin und her sah.
Robin reagierte blitzschnell und verneigte sich vor ihr. „Ich wünschen ihnen einen guten Appetit, Prinzessin" ,murmelte er noch, bevor er mit gesenktem Kopf aus dem Zimmer huschte.
Crow hatte sich auch aus ihrer Starre gelöst und schloss die Tür hinter Robin. Dann kam sie mit einem fragenden Blick auf sie zu.
Fiona stand immer noch mit rasenden Gedanken am Fenster, als Crow leise fragte: „Fiona, wer war der Junge und worüber habt ihr miteinander geredet?"
Sie starrte die Dienerin eine Weile an, bevor sie sich abwandte und antwortete: „Er hat mir bloß das Essen gebracht."
Im Augenwinkel sah sie, wie Crow die Arme vor dem Körper verschränkte und sie tadelnd ansah. „Ich bin nicht dumm, Fiona. Ich weiß, dass dieser Junge der Gleiche war, der dich vor der Wache verteidigt hat und ich weiß auch, dass er derjenige ist, der dir im Armenviertel beim Schlittschuhfahren geholfen hat. Ich erkenne ein Gesicht, wenn ich es zuvor schon einmal gesehen habe. Das solltest du mittlerweile eigentlich wissen. Also wieso lügst du mich an?" ,fragte sie ehrlich verletzt.
Fiona konnte Crow nicht in die Augen sehen, als sie zum Bett hinüber ging und sich auf die weiche Matratze niederließ. Die Dienerin setzte sich schweigend neben sie und griff nach ihrer Hand. „Du kannst mir vertrauen, Fiona" ,flüsterte sie eingehend. Fiona öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
Sag ihr nicht die Wahrheit! ,rief plötzlich die Stimme in ihrem Kopf. Fiona schloss den Mund wieder.
Wieso nicht?! Sie ist meine Freundin! Sie hat mir vom ersten Tag an geholfen.
Du kannst ihr nicht vertrauen! Sie arbeitet und lebt für den König! ,antwortete die Stimme ernst.
Fiona wusste das, doch sie wusste auch, dass man sich ändern konnte und dass Jeder eine zweite Chance verdiente. Also fragte sie leise: „Versprichst du mir, es niemandem zu sagen?" Crow nickte entschieden und drückte Fionas Hand.
„Du kannst mir vertrauen" ,flüsterte sie erneut. Fiona wusste einfach, dass ihre Freundin die Wahrheit sagte. Sie musste einfach die Wahrheit sagen.
Nein Fiona, bitte ,flehte die Stimme in ihrem Kopf, doch Fiona ignorierte sie.
Du bist keine Göttin! Du weißt nicht, was passieren wird! Ich kann immer noch selbst entscheiden, was ich für richtig halte!
Die Stimme sagte nichts mehr und Fiona spürte, wie sie aufgab. Sie sah wieder Crow an, die sie abwartend musterte, bevor sie leise erklärte: „Ich werde heute Abend fliehen. Der Junge, Robin, er hilft mir unbemerkt aus dem Palast zu kommen." Sie erzählte absichtlich nichts von dem Captain und Liv, denn auch wenn die Stimme sicherlich falsch lag, konnte Fiona nicht erwarten, dass Crow verschwieg, dass sie die Königin von Eletheria befreien würde.
Die Dienerin sah sie überrascht an, doch sie nickte verständnisvoll. Sie hielt immer noch ihre Hand und Fiona überlegte ihr etwas anzubieten, worüber sie schon lange nachgedacht hatte.
„Crow?" ,murmelte sie, „Willst du mit mir mitkommen?"
Ihre Freundin sah sie ehrlich überrascht an und Fiona konnte sehen, wie sie zweifelte, als sie auf ihre ineinander verschränkten Hände starrte. „Fiona, ich arbeite seit ich klein bin für den König. Ich... ich weiß nicht, ob ich mich einfach von ihm lösen könnte" ,flüsterte sie, ohne sie anzusehen.
Fiona nickte langsam, bevor sie antwortete: „Ich verstehe, was du meinst, doch der König ist gefährlich und ich habe Angst, wenn ich daran denke, dass du in seiner Nähe bleibst. Ich will nicht, dass du so endest, wie all die Anderen, die mir etwas bedeutet haben."
Eine Welle der Trauer durchflutete sie, als sie an ihre Mutter dachte, als sie an Liv dachte. Die Gestaltwandlerin, die ihren Namen wissen wollte, die ihr Hoffnung gegeben hatte, als sie hatte aufgeben wollen.
Crow lächelte mitfühlend und sie strich Fiona eine Strähne ihres blonden Haars zur Seite, die ihr ins Gesicht gefallen war. „Du bedeutest mir auch viel" ,flüsterte sie leise und eine angenehme Wärme breitete sich in Fionas ganzem Körper aus.
„Bitte komm mit mir!" ,bat sie leise, während sie Crows Hand drückte und als ihre Freundin langsam nickte, schlang Fiona ihre Arme um sie. „Danke!" ,murmelte sie glücklich und sie spürte, wie Crow lächelte, als sie ihr sanft über den Rücken strich.

Am Abend kam Crow mit einem Bündel in der Hand zurück in ihr Zimmer. Fiona stand am Fenster und beobachtete, wie die Sonne langsam am Horizont unterging. Dies war der letzte Sonnenuntergang, den sie von diesem Zimmer aus beobachten würde, denn ab heute Nacht würde sie frei sein.
Ihre Hände berührten sich kurz, als Crow ihr das Bündel reichte, das sich als eines der grauen einfachen Kleider der Dienerschaft entpuppte, das auch Crow immer trug. Fiona lächelte dankbar, bevor sie gemeinsam mit Crow ins Bad ging und die Dienerin ihr aus dem hellblauen seidenen Kleid half und in das Einfache hinein.
In dem vertrauten rauen Stoff fühlte Fiona sich direkt viel wohler und zufrieden musterte sie sich im Spiegel an der Wand. Sie hatte zugenommen, seit der König sie aus den Kerkern geholt hatte, ihre blonden Haare glänzten golden und fielen in leichten Locken auf ihre Schultern und ihre Wangen waren vor Aufregung leicht gerötet.
Crow kniete sich vorsichtig vor ihr nieder und befestigte mit sicheren Handgriffen Livs Dolch an ihrem nackten Oberschenkel, bevor sie das Kleid wieder herunter ließ und Fiona einen dunklen Umhang reichte. Als Fiona ihn übergezogen hatte, schaute sie Crow fragend an.
„Du solltest auch eine Waffe bei dir haben" ,sagte sie besorgt, doch Crow lächelte bloß bei ihren Worten.
„Ich bin niemals unbewaffnet, solange ich denken kann" ,antwortete sie, „Ich werde dafür sorgen, dass die Wachen verschwinden. Bleibe solange im Bad, falls etwas schief läuft. Ich sage dir Bescheid, wenn die Luft rein ist."
Fiona nickte und beobachtete, wie Crow erst das Bad verließ und dann die Tür zu ihren Gemächern hinter ihr zu fiel. Sie hörte Stimmen, doch sie konnte nicht verstehen, was sie sagten. Ihr ganzer Körper war angespannt und ihre Hand lag an ihrer Seite, wo sie den Dolch unter dem Stoff des Kleides spüren konnte.
Kurz darauf öffnete Crow die Tür und winkte sie zu sich. Zusammen traten sie auf den dunklen Gang hinaus. Die Wachen waren nirgendwo zu sehen.
„Folge mir!" ,flüsterte Crow und Fiona tat, was sie sagte.

Der fliehende FalkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt