Es ist WEG!!! (2)

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Alice Grün riss die Türe zu ihrem ehemaligen Haus auf und stürmte hinein. Ihr Vater folgte ihr, wie immer, eher gemächlich, blinzelte, blieb stehen, rieb sich die Augen, blinzelte noch einmal und lief dann weiter. Ganz langsam. Normalerweise war Alice selbst auch nicht die Art Person, die sich aus unnötigen Gründen beeilt hätte, aber dieses Mal ging es um das Wichtigste in ihrem ganzen Leben: ihr Smartphone! Es war weg! Alice war sich sicher, dass es ihr wohl beim Umzug aus der Tasche gefallen sein musste. Eine andere Erklärung gab es nicht! Man verliert sein Smartphone nicht einfach, zumindest nicht wenn man so sehr in dem Ding klebt wie Alice. Das 12-jährige Mädchen durchforstete panisch, vermutlich so schnell wie noch nie in ihrem kompletten Leben davor, den unteren Stock des Hauses. Sie wirkte fast schon wahnsinnig.

Wäre Alice etwas aufmerksamer gewesen, hätte sie vielleicht gesehen, wie sich zwei Dämonen, ungefähr genauso panisch wie sie, durch ein Portal aus dem Staub machten, sobald sie das Haus betrat, aber Alice war nicht sonderlich aufmerksam.
Alice war ein TikTok-Star, und ein Instagram-Star, und sie hatte unzählige Freunde auf Social Media, da musste man nicht aufmerksam sein (auch wenn ihre Eltern und Lehrer das Gegenteil behaupteten).

Im Internet war alles einfach, man musste gut aussehen und nett sein und dann fand man Freunde. Freunde, von denen Alice wusste, dass sie sie bald verlieren würde, weil sie ihnen schon seit über zwei Tagen nicht mehr geschrieben hatte.
Sie hatte, seit das Handy weg war, keine Videos mehr auf TikTok hochladen können, und keine Fotos von ihrem Essen auf Instagram. Sie war verzweifelt!
Ihre Snapchat Flammen! Die waren weg! Die würden nie wiederkommen!

Während Alice von einem Raum in den anderen rannte und winselnd nach Ihrem mobilen Endgerät suchte, hockte ihr Vater sich auf den Sessel im Wohnzimmer und guckte sich um. Noch immer roch alles nach Kohl und Katze, obwohl er doch versucht hatte den Geruch loszuwerden.
Elender Teppich im Treppenhaus! Der müffelte nicht nur und war unmöglich von den Stufen zu lösen, er sah auch so aus als wäre darauf einmal etwas gestorben.
Herr Grün, als Tatortreiniger, erkannte so etwas. Der Elende Stinketeppich des Todes war auch der Grund gewesen, aus dem Herr Grün auf den Umzug bestanden hatte.

Das Verhalten seiner Tochter nervte ihn sichtlich. Vielleicht tat ihr eine Pause von ihrem Handy ja ganz gut. "Es muss doch irgendwo sein!", jammerte Alice während sie über den ekligen Teppich kroch.
Da war eine Spur drauf, als hätte etwas großes eine sehr unsanfte Landung gehabt.
War natürlich quatsch! Was sollte das schon gewesen sein? Das Haus stand doch leer.
Alice raufte sich die, jetzt mit Teppichstaub kontaminierten, Haare. Sie war am verzweifeln.

"Ist es oben?", fragte ihr Vater leicht angewidert vom zustand seiner Tochter. "Nein! Beim runtergehen hatte ich es noch!", gab diese zurück. Sie war den Tränen nahe. "Ist es im Keller? Du wolltest noch Sachen holen.", fragte Herr Grün und Gähnte.
Alice riss die Augen weit auf und sprintete die Treppe nach unten. Langsam und genervt schüttelte der Tatortreiniger den Kopf. Die Treppe in Kombination mit dem Teppich würde noch jemanden umbringen, wenn die Leute weiter so darüber wetzten. Hatte sie ja, den Spuren nach, sogar schon! Er wollte Alice nachrufen, sie solle doch vorsichtig sein, aber sein Kind war bereits im Keller verschwunden.

Alice Grün wusste sofort, dass das Handy nicht im Keller war, als sie ihn betrat. Der kleine, quadratische Raum war komplett leer.
Es war ein Wunder, dass das Umzugsteam nicht sogar die Fliesen mitgenommen hatte.
Sie suchte trozdem.
Ganze drei mal.
Dann sprintete sie die Treppe wieder nach oben.

"Papaaaa!"
"Was?"
"Es ist nicht da!"
"Na und? Vielleicht ist es in einer der Kisten."
"Nein, ist es nicht!"
"Sicher?"
"Sicher!"
"Ganz sicher?"
"Ganz sicher!"
"Wenn es da ist..."
"Ist es zu 10000 Prozent nicht! Ich schwöre! Mega, super, ultra, extrem, wahnsinns sicher!"
"Na wenn du das sagst..."

Alice sah sich kurz um. Ihr Vater blockierte effektiv das einzige Möbelstück, das noch im Haus war. Den Rest hatte das emsige Umzugsteam mitgenommen. Der Sessel war am Laminat festgeschraubt und es war schlicht unmöglich gewesen ihn zu entfernen.
Diese Umzugsfirma gab dem Ausdruck 'alles wegnehmen, was nicht nied- und nagelfest ist' eine ganz neue Bedeutung. Alice setzte sich auf den Boden.

"Papaaa."
"Was?"
"Es ist weg."
"Ich weiß."
"Du verstehst das nicht! Es ist weg!"
"Ich weiß."
"Nein, es ist WEG!!!"
"Ich weiß."
"Was ist, wenn ich es nie wieder finde?"
"Wir warten einen Monat und gucken dann mal nach einem Neuen."
"Einen ganzen Monat?! Das überlebe ich nicht!"
"Du bekommst solange mein altes."
Alice raufte sich die Haare. Das war eine Katastrophe! Das alte Handy ihres Vaters hatte kaum social Media.

"Das ist nicht das gleiche...", sagte Alice mit Grabesstimme und einem Gesichtsausdruck, als hätte ihr Vater vorgeschlagen einen toten Angehörigen mit einer realistischen Puppe zu ersetzen.
"Du führst dich auf.", meinte Herr Grün genervt.
"Nein, tu ich nicht."
"Du bist süchtig."
"Stimmt gar nicht!"
"Dann überlebst du auch einen Monat mit meinem alten Handy, was sollen wir schon machen?"
"Du hast mich reingelegt."
"Schon möglich."

Alice starrte ihren Vater schockiert an und brach dann, mit einem gespielten Blick der Verzweiflung auf dem Gesicht, auf dem Boden zusammen: "Vom eigenen Vater hereingelegt! Skandal! Hochverrat!"
Herr Grün lachte, rutschte vom Sessel und begann seine Tochter zu kitzeln. "Und jetzt greift er sie auch noch aus dem Hinterhalt an, der Schuft!"
"Genau!", prustete Alice, "Frechheit!"

Herr Grün stand auf und zog seine Tochter auf die Beine. "Vielleicht findest du es ja auch.", meinte er und tätschelte ihr den Kopf.
Alice nickte. "Hoffentlich! Sonst bin ich voll tot!"
"Geht auch halb tot?"
"Ha. Ha. Nicht witzig."
"Ein viertel tot?"
"Hör auf."
"Wärst du dann ein Zombie?"
Alice wollte gerade zu einer schnippischen Erwiderung ansetzen, als das Handy ihres Vaters laut zu klingeln begann.

"Schhhhhh. Da muss ich dran.", meinte Herr Grün, hob das Handy ans Ohr und verließ das Zimmer. Alice begann unterdessen weiter zu suchen. Natürlich war es relativ offensichtlich, dass das Handy nirgends in dem komplett leer geräumten Haus war, aber es beruhigte sie, zu wissen, dass sie jeden Winkel, auch die in denen sie während dem Umzug gar nicht gewesen war, durchsucht hatte, als sei sie ein Leichenspürhund auf dem Friedhof. Plötzlich betrat ihr Vater den Raum. "Tut mir leid, Schätzen, wir müssen gehen."
"Was? Ich hab noch nicht fertig gesucht!"
"Die Arbeit hat angerufen. Irgend so eine Wahnsinnige hat im Kölner Dom eine Leiche hochgejagt. Ich muss das wegmachen..."
Alice nickte resigniert. Ihr Handy war wohl wirklich weg.

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