Mit aufgerissenen Augen starrte Alice die Gestalten vor sich an.
Sie kannte sie, alle beide.
„Menia?" Der Name ihrer Schwester kam ihr als gehauchte Frage über die Lippen.
Das dunkelhaarige Mädchen schaute auf.
Ihre Augen weiteten sich.
Für einen Moment konnte Alice die gelben Sprenkel in ihnen erkennen.
Ihre Schwester öffnete einige Male den Mund, doch kein Geräusch verließ ihre Lippen.
Was passierte hier?
Etwas breitete sich in ihr aus.
Sie konnte es nicht beschreiben.
Da war nur diese unbändige Stille, die sie verrückt machte.
Jemand sollte etwas sagen, irgendetwas.
Sie hätte es getan, aber die Worte blieben in ihrer Kehle stecken.
Was tat ihre Schwester hier?
Sie verstand es nicht.
Trotz der Größe des Raumes hatte sie plötzlich das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.
Den Blick gesenkt wollte sie das Zimmer verlassen, doch eine Stimme hielt sie zurück:
"Lice, lass es mich dir erklären."
Die Angesprochene drehte sich zurück und blickte ihre Schwester erwartend an.
"Ich liebe May, für sie empfinde ich das, was ich Titus niemals entgegen bringen könnte. Was ist denn so falsch daran?" Sie machte eine Pause und eine einzelne Träne löste sich aus ihren Augen, "Du musst mich doch verstehen. Lice, du bist meine Schwester."
Alice schüttelte den Kopf und brachte nur ein einzelnes Wort heraus: „Warum?"
Armenia zuckte mit den Schultern: „Es ist einfach passiert."
Sie musste wirklich hier raus.
Die Situation löste etwas in ihr aus.
War es richtig, was ihre Schwester tat?
Waren diese Gefühle richtig?
Es gab nur eine Person, die sie das fragen konnte.
Ohne eine weitere Reaktion wandte sie sich der Tür zu und verließ das Zimmer.
"Alice, warte," die Verzweiflung in der Stimme ließ ihr Herz erstarren.
Etwas in ihr sagte ihr, dass sie ihre Schwester decken sollte.
Was würde Henri mit der Information machen?
Würde er seine Schwester decken?
Oder würde er es ihren Eltern erzählen?
Sie kannte die Antwort nicht.
Aber war es das wert?
Die Gefahr auf den Verlust einer Schwester?
Dieses Mal kannte sie die Antwort.Das weiche Kissen unter ihrem Gesicht spendete ihr Trost, doch die wirren Gedanken in ihrem Kopf konnte es nicht vertreiben.
Ein Teil von ihr wollte die Treppe hinunter rennen und ihrem Bruder von dem Geheimnis ihrer Schwester erzählen.
Ein anderer Teil wollte es einfach vergessen.
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als sie spürte, wie sich die Bettkante neben ihr absenkte.
Blitzschnell wandte sie den Kopf.
Der Junge, dem sie im Garten begegnet war, blickte ihr entgegen.
Sie hatte ihn vollkommen vergessen.
Wie hatte sie ihn bei ihrer Flucht übersehen können?
Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Augen und richtete sich dann auf.
„Alles was hier gerade passiert ist, bleibt unter uns. Hast du mich verstanden?"
Er zuckte zurück und nickte.
Seine Stimme war nicht mehr als ein leises Murmeln, als er auf ihre Frage antwortete: „Es gäbe ja auch niemanden, dem ich es erzählen könnte."
Eine Welle des Mitleides durchflutete sie.
Was hatte dieser Junge in den letzten Monaten mitmachen müssen?
Sie spürte ein warmes Lächeln auf ihr Gesicht treten.
„Hey, wenn es dir nicht gut geht, kannst du jederzeit zu mir kommen oder wenn du einfach nur raus willst. Vertrau mir, das ist das wichtigste," während ihrer Worte griff sie vorsichtig nach seiner Hand.
Zugeben würde sie es zwar nie, aber auch ihr gab diese Geste Kraft.
Sie saß einem Jungen gegenüber, der vermutlich jeden Tag schlimmere Dinge durchlebte als sie es tat.Es hatte fast eine halbe Stunde gebraucht, in der sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen.
Irgendwie war es ihr gelungen, alles in ihren Hinterkopf zu verbannen.
Doch vergessen hatte sie es keinesfalls.
Nur mit großer Anstrengung gelang es ihr ein Lächeln auf ihr Gesicht zu bringen.
Das neue Kleid, das sie an diesem Morgen bekommen hatte, hatte einen nicht unwesentlichen Teil zu dieser Entwicklung beigetragen.
Es war dunkelgrün und der leichte Chiffon des Rockes umspielte ihre Knie.
Das Oberteil schmückten Blumen und winzige Steine waren auf ihnen aufgereiht.
Ihre langen kupferroten Locken bildeten einen perfekten Kontrast zu dem dunklen Stoff des Kleides.
Mit einer einladenden Geste hielt sie dem Jungen ihren Arm hin: „Wollen wir?"
Etwas zaghaft griff er nach ihrem Arm und gemeinsam traten sie auf den Flur hinaus und auf die Treppe.
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Die Kinder der Rumtreiber - the danger
FanfictionEin Jahr voll Angst war umsonst gewesen. Ein Jahr war verschwendet worden, für nichts als eine Lüge. Ein Jahr hatte gereicht um hinter ein gut gehütetes Geheimnis zu kommen. Ein Jahr war genug gewesen, um neue Freundschaften zu schließen, die Tradit...