"Tu es nicht!"

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Tu es nicht!, schrie die Stimme in meinem Kopf. Dir wird nur etwas passieren. Ich fühlte mich in diesem Moment von jeglicher Vernunft verlassen, denn sobald ich daran dachte, auch nur einen Fuß in Richtung dieser mörderischen Schlucht zu machen, kribbelte jede Zelle meines Körpers vor Sehnsucht. Vor Sehnsucht danach, gespürt zu werden.

"Ihr seid echt irre." sagte ich, denn ich wollte nicht, dass jemand bemerkte, wie sehr ich wirklich springen wollte. Nicht, dass man am Ende mich noch für die Wahnsinnige hielt und nicht etwa Vanessa, die einfach über diese Schlucht hinweggesegelt ist, wie auch immer sie das gemacht hatte. Ich konnte es mir nicht erklären. Alles, was ich wusste, war, dass sie putzmunter auf der anderen Seite stand und mich herausfordernd anblickte.

"Als irre würde ich uns jetzt nicht wirklich bezeichnen. Anders. Anders ist ein schönes und passendes Wort, meiner Meinung nach." Adrian war mittlerweile ein ganz anderer Mensch. Nicht mehr der zurückhaltende, ruhige Junge, der mir nie aufgefallen ist, sondern eher jemand, der auffällt. Die anderen schienen auf ihn zu hören. "Du musst es, wie gesagt, wirklich nicht tun. Keiner zwingt dich dazu."

"Denkst du, ich kneife? Denkst du, ich hätte Angst? Warum hättet ihr mich sonst hier her mitgenommen? Wenn du denkst, ich sei nicht gut genug, dann beweise ich dir mit Freuden das Gegenteil." Bevor er auch nur irgendetwas sagen konnte, joggte ich drei Meter zurück um Anlauf zu nehmen.

Keine Angst. Sei mutig und weiche nicht zurück. Da war sie wieder und das gerade in so einem Moment wie jetzt. Das letzte Mal, als ich sie hörte, kam mir so weit weg vor als wäre es schon eine Ewigkeit her. Dabei waren es nur wenige Tage. Diese Stimme verwirrte mich und sorgte dafür, dass ich mich selbst für psychatriereif hielt. Hallo, ich bin gerade dabei über eine Schlucht zu springen. Als wäre das nicht irre genug.

Ich wusste, dass ich dabei drauf gehen könnte, doch wenn ich ehrlich bin, war mir das in jenem Moment scheißegal. Mein Körper schien fast zu explodieren vor Energie und ich wollte unbedingt beweisen, was ich wert bin. Dass ich es wert bin.

Der erste Schritt war der schwerste, danach ging jedoch alles von allein. Ich rannte, spürte jede Berührung von mir und der Erde. Jeder meiner Schritte fühlte sich an, als würde ein Impuls von meinen Füßen bis hoch zum Kopf durch meinen Körper rasen. Noch drei Meter, zwei Meter, ... ein Meter. Das Gefühl von Zeitlupe hat sich wieder eingestellt und es war, als sehe ich meinen Körper springen von einem Augenpaar einer Vogels aus.

Meine dunkelblonden Haare wurden durch den Wind und durch mein Tempo ganz durcheinander geweht und ich spannte jeden meiner Muskeln an als ich die Kante erreicht hatte und absprung.

Der Schmerz kam schnell. Erst sah ich mein verzerrtes Gesicht, dann hörte ich den schrillen Schrei meiner eigenen Stimme und dann kam der Schmerz. In nicht mal einer Sekunde war ich wieder ich selbst und hörte jeden meiner Knochen einzeln knacken, brechen, sich verformen. Gott verdammte Scheiße, was war hier los????!!!! Ich hörte vage eine Stimme, die schrie: "Es passiert!" bis ich auf der harten Erde auf der anderen Seite ankam und sich alles in mir schmerzhaft zusammenzog.

Dieses Gefühl alle meine Glieder würden brennen, war mir bekannt, doch war es dieses Mal so viel schlimmer. Ich hörte meine eigenen Schreie in der Schlucht wiederhallen. Ich berührte mein Bein und schrie jetzt auch noch vor Schock. Ich berührte es wieder, griff entsetzt in das Fell, was sich statt der Haut dort ausgebreitet hatte. Jetzt konnte ich es überall fühlen. Es befiel meinen Körper wie eine Krankheit.

Ich kniete mich hin und keuchte, spuckte auf den Boden. Ich schaute auf weißes Fell, wo meine Hände eigentlich sein müssten. Pfoten, was weiß ich erblickte ich an meinem Körper, der nicht mehr meiner war. Ich schaute auf, entsetzt von dem Gräuel, was mit mir passiert ist. "Ganz ruhig, Sophie. Wir tun dir nichts und wir können dir das alles erklären." Vanessa sah so winzig aus, denn ich konnte irgendwie von oben noch ein Stück auf sie herab sehen, als wäre ich um einiges größer als sie. Mein Gott, wie groß musste ich da sein, wenn ich immer noch wenn nicht sogar mehr über sie hinweg schauen konnte.

Ruf der Wölfe - #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt