Kapitel 21

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CN: Verletzung, Durst, Tod, Waffen, Tötung


Mel wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber viel konnte es nicht sein. Es war dunkel geworden, doch der Mond stand noch tief am Himmel. Vorsichtig schob Mel ihr Shirt nach oben und entfernte die zermatschten Arnikablätter, die sie vor dem Schlafengehen aufgetragen hatte. Darunter hatte ihre Haut eine gelb-grüne Färbung bekommen, aber ihre Rippen taten etwas weniger weh als noch Stunden zuvor. Erleichtert atmete Mel auf, bevor sie sich zurück an den Stamm lehnte.
Seltsamerweise verspürte sie kaum Müdigkeit. Es war vermutlich noch früh gewesen, als sie sich schlafen gelegt hatte, und jetzt konnte sie trotz der Dunkelheit nicht mehr einschlafen. Vielleicht lag es an der feuchten Kälte der Luft, die sie umhüllte und Schicht für Schicht durch ihre Kleidung drang. Oder es waren die Gedanken des letzten Abends, die noch in ihrem Bewusstsein hingen: Es waren nur noch vier Tribute übrig außer ihr. Und eine davon war Edda.
Entmutigt ließ Mel den Kopf auf ihre angewinkelten Knie sinken und rieb ihre kalten Finger aneinander. Langsam, aber sicher kroch ihr Durstgefühl zurück in ihr Bewusstsein und ihr Magen schmerzte. Hätten sie und Edda sich doch bloß nie getrennt! Und hätten sie unten am Fuß des Berges mehr Wasser und Essen gesammelt, wäre jetzt alles besser. Hoffnungslosigkeit schwappte wie eine Welle über Mel und brachte sie zum Zittern. Sie hatte ja nicht einmal mehr Kapseln gefunden!

Irgendetwas ließ Mel stutzen, aber bevor sie dem Gedanken folgen konnte, riss eine laute Melodie sie wieder zurück in die Gegenwart. Die Hymne Panems erklang, und mit ihr würden die gefallenen Tribute des Tages gezeigt werden. Wenn es denn welche gäbe – aber sie hatte keine Kanone gehört, die einen Tod verkündete.
Trotzdem blickte sie nach oben in den Nachthimmel und wartete darauf, dass die Musik nach wenigen Sekunden wieder verschwinden würde. Doch oben in der Dunkelheit prangte ein Bild.
Avery blickte auf sie hinunter.

„Nein!", keuchte sie. „Avery!"
Tränen traten in Mels Augen und liefen ihre Wangen herunter.
Sie krümmte sich zusammen und schluchzte laut auf. Immer wieder blitzte das Porträt von dem jungen Mädchen vor ihrem inneren Auge auf, selbst, als die Hymne schon längst verstummt und der Himmel wieder schwarz geworden war.
Ich habe sie im Stich gelassen! Ich habe mich von ihr abgewandt und deshalb ist sie jetzt tot!
Verzweifelt krallte Mel ihre Hände ineinander und wollte weinen, aber es kamen keine Tränen.
Wenn sie nicht auf Cecelia gehört hätte, würde das dreizehn-jährige Mädchen jetzt noch leben, sie wären Verbündete und würden beide leben!
Wieder stand ihr der Blick vor Augen, mit dem Avery sie traurig angesehen hatte, als Mel sie im Trainingscenter ignoriert hatte. Es war alles ihre Schuld!
Schluchzend kauerte sie sich neben dem Felsen zusammen und fühlte ihr Herz schwer werden vor Traurigkeit, während sie sich zusammenkrümmte.


„Mel!"
Ein Schrei in den Finsternis. Mel schreckte hoch und horchte, unsicher, ob sie nur geträumt hatte.
„Mel!"
Sie sprang so schnell auf, dass ihr schwindelig wurde. Das war Eddas Stimme!
Mit zittrigen, kalten Händen wischte sie sich den Dreck von der Kleidung und griff nach ihrem Rucksack, bevor sie zurückrief: „Edda! Hier bin ich!"
Kurz darauf entflammte in der Ferne ein Licht, dass sich hin und her bewegte. Es befand sich schon etwas höher am Berg und ein ganzes Stück weiter links am Hang. Das musste Edda sein, die mit einer Fackel auf sich aufmerksam machte. „Ich komme!", rief Mel und lief voller Tatendrang und frisch erweckter Hoffnung los. Dabei heftete sie den Blick abwechselnd auf das Licht vor sich und versuchte, den steinigen Untergrund zu erkennen, um nicht auszurutschen. Soweit sie sich daran erinnern konnte, waren in Eddas Richtung keine Schluchten gewesen, sondern nur die leichte Schräge des Berges.
Nach kurzer Zeit hörte das Licht auf, sich zu bewegen, wahrscheinlich hatte ihre Verbündete die Fackel irgendwo festgeklemmt. Also hielt Mel immer weiter darauf zu und kämpfte sich im Mondschein den Fels entlang. Es dauerte länger, als sie angenommen hatte; in der Dunkelheit war die Entfernung nicht gut abzuschätzen und sie kam langsamer voran als im Tageslicht. Müde trottete sie voran, zermürbt von der Trauer der letzten Stunden und der fehlenden Nahrung, aber auch vorangetrieben von ihrer neuer Hoffnung. Bald würde sie wieder bei Edda sein, dann konnten sie sich erneut zusammenschließen und gemeinsam überleben. Sie hatten erst zwei Nächte in der Arena ausharren müssen, das war viel weniger als sonst Sicher würden die Spiele mit zwölf Tributen nicht so lange dauern. Sie könnte in wenigen Tagen bereits wieder Zuhause sein!


Der Mond wanderte stetig über den Himmel, während die Fackel vor Mel immer weiter herunterbrannte. Die Flamme zitterte mehr und mehr und wurde kleiner, bis sie schließlich ganz erlosch.
Mel versuchte, sich die Richtung so gut wie möglich einzuprägen und lief weiter. Sie schätzte die verbleibende Wegestrecke noch auf etwa zwei Stunden ein, zumindest bei ihrem Nachttempo. Wenn sie jetzt eine Pause machte und bis zum Morgen wartete, würde sie nur unnötig Zeit verschwenden, in der sie schon Edda treffen und an Nahrung kommen könnte. Selbst wenn sie etwas schief wanderte, würden sie sich über Rufen verständigen und finden können.
Es verging einige Zeit, vielleicht eine halbe Stunde, dann leuchtete erneut ein Licht auf. Es war näher und etwas höher, als Mel gedacht hatte, also war sie tatsächlich nicht ganz auf dem geplanten Weg geblieben. Gut, dass Edda noch eine Fackel entzündet hatte! „Ich bin bald da!", rief Mel in Richtung der verheißenden Flamme.

Ihre Hände waren vom Laufen warm geworden, ebenso ihr restlicher Körper, der beim Schlafen ausgekühlt war. Je näher sie an das Feuer kam, desto rascher schritt sie aus, um endlich bei Edda zu sein, die bestimmt etwas zu essen und Wasser gefunden hatte.
Endlich war die Fackel nicht mehr weit entfernt. Mel schätzte die Strecke nur noch auf wenige Minuten und rief noch einmal „Edda!" in die Dunkelheit, diesmal etwas leiser, um niemanden anzulocken. Als Antwort schwenkte ihre Freundin das Licht hin und her. Anscheinend wartete sie bei einigen großen Felsbrocken, bis zu denen eine ebene Steinfläche führte. Mel begann, zu joggen und atmete stoßweise die kalte Nachtluft ein und aus. Der Rucksack hüpfte auf ihrem Rücken, aber sie beachtete ihn nicht. Gleich war sie wieder bei Edda!
Hinter dem Felsen trat eine Gestalt hervor. Für einen Augenblick spürte Mel eine solche Erleichterung, dass sie auflachte, bis sie plötzlich stutzte. Die Person, die dort stand, war kleiner als Edda. Und im Licht der Fackel blitzte eine lange Klinge auf.

„Na, Acht, suchst du jemanden?", fragte Storm mit einem gehässigen Grinsen, während sie in den erleuchteten Kreis der Fackel trat. Mel hatte gerade noch Zeit, hastig nach ihrem Messer zu tasten, als ihre Gegnerin schon auf sie losstürmte. Mit einem Ruck zog Mel die Klinge aus ihrem Gürtel, während sie hastig einige Schritte rückwärtsstolperte. In dem Moment, in dem Storm sie erreichte, fiel ihr das Messer aus der schwitzigen Hand und klirrte auf dem felsigen Untergrund. Sie bückte sich danach – damit hatte Storm nicht gerechnet. Im Schwung hieb sie mit ihrer Klinge weit über Mel hinweg und geriet ins Straucheln. Instinktiv hieb Mel ihr die Faust in den Magen und stieß sie aus ihrer tiefen Position heraus um. Gemeinsam gingen die beiden Mädchen zu Boden, doch Mel lag oben, da sie Storm rücklings umgeschubst hatte. Im entstandenen Überraschungsmoment schaffte sie es, sich auf Storms Oberkörper zu setzen, ihre Arme zu fixieren und ihr das Messer an die Kehle zu halten.
„Wo ist Edda?", brachte Mel keuchend hervor.
„Mir egal. Die wird Edric schon finden. Wir haben genug Material aus den Kapseln hier, um euch fertigzumachen!", stieß Storm hervor, spannte die Muskeln an und versuchte mit aller Kraft, sich zu befreien. Doch sie fand keinen Ansatz und Mel war schwerer als sie, weshalb sie es nicht schaffte, die Oberhand zu gewinnen. Darum haben wir keine Kapseln mehr gefunden, schoss Mel durch den Kopf. Die beiden waren vor uns hier.
Sie schob das Messer näher an Storms Hals, die sich wand und versuchte, den Kopf wegzudrehen.
Jetzt muss ich zustoßen. Einfach das Messer heben und in den Hals rammen.
Sie hob die Hand, die Klinge zitterte zwischen ihren Fingern.
Einfach zustoßen, und dann nur noch Edric... Jetzt, Mel, jetzt!
Doch sie schaffte es nicht. Sie blickte in Storms Gesicht, sah die Panik in ihren Augen, und brachte es nicht über sich, die Klinge in ihren Hals zu drücken.
Ich kann das nicht. Ich kann sie nicht umbringen. Ich kann kein Leben beenden.
Ich muss.
Jetzt.
Ihre Hand mit dem Messer zuckte.
In dem Moment bäumte Storm sich auf. Sie hatte die Unsicherheit in Mels Gesicht deutlich erkannt, das Zucken der Hand gesehen.
Sie drehte sich gleichzeitig nach oben und zur Seite und rammte Mel den Ellbogen in den Magen. Mit einem Stöhnen sackte diese zusammen, während Storm aufsprang und ihr Schwert vom Boden aufhob. Mel hörte das Scharren von Metall auf Stein und öffnete die vor Schmerz zusammengekniffenen Augen.
Vor ihr ein dunkler Schemen. Storm. Das Blitzen von Metall.
Nein!
Von Todesangst getrieben sprang Mel auf und stolperte trotz der Krämpfe in ihrem Bauch los. Ihr Körper arbeitete wie von allein, trug sie voran, das Adrenalin ließ sie den Schmerz vergessen. Panik füllte jede Zelle ihres Körpers, als sie sich umdrehte und Storm direkt hinter sich erblickte. Sie stieß einen unkontrollierbaren Schrei aus, stürzte zu Boden. „Nein, bitte nicht!"
Dann wurde alles schwarz.

Die 100. Hungerspiele: Täuschende HoffnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt