CN: sexueller Übergriff
Mel zog die weiße Schleife fest, die sie in ihr dunkelbraunes Haar geflochten hatte. Dann trat sie auf den Flur des kleinen Hauses, in dem sie mit ihren Eltern wohnte, und rief nach ihrer Mutter.
"Mum?"
"Ja?"
"Ich geh jetzt los. Zu Clay."
"Okay. Sei pünktlich zur Ernte. Wir warten auf dich!"
"Klar. Bis nachher!"Während der wenigen Minuten, die Mel brauchte, um zu Clays Haus zu laufen, versank sie in Gedanken. Die Ernte. Würde sie gezogen werden? Sicher nicht. Distrikt Acht hatte genug andere Mädchen.
Andererseits waren ja auch nicht irgendwelche Hungerspiele...
Nein, heute auf dem Platz würde eine weitere quälende Jubel-Jubiläums-Karte geöffnet werden und der erschreckende Inhalt verlesen. Was sie wohl erwartete? Bei dem Gedanken an das Unbekannte, was die diesjährigen Tribute in der Arena erwarten würde, ergriff eine kalte Angst sie und ihr Herz zog sich zusammen. Sie versuchte, den Gedanken an die bevorstehende Zeremonie beiseitezuschieben und atmete laut aus."Ha!"
Eine Hand presste sich auf Mels Schulter und sie schrie vor Überraschung und Schreck auf.
"Man, Clay! Erschreck mich nicht so!"
"Du bist aber auch echt leicht zu erschrecken", sagte der großgewachsene Junge, der hinter ihr aufgetaucht war. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie an ihm vorbeigelaufen war.
Gespielt beleidigt blickte Mel zur Seite, doch er legte eine Hand an ihre Wange, drehte ihren Kopf und zwang sie so, direkt in seine Augen zu schauen.
Einige Sekunden hielt Mel es aus, mit bitterbösen Blick in die grünen Augen ihres besten Freundes zu blicken, dann verzog sich ihr Gesicht und ihr entfuhr ein Lachen.
Immer wieder schaffte Clay es, ihr gute Laune zu machen! Sogar an Tagen wie diesen, Erntetagen. Erleichterung durchschoss sie. Von nun an war sie nicht mehr allein bis zur Ernte.
"Wir haben noch eine halbe Stunde, bis wir losmüssen. Was sollen wir machen?", fragte Mel ihn.
"Gehen wir doch in den Schuppen", schlug er vor.
Hinter Clays Haus befand sich ein kleiner, halb verfallener Schuppen, den sie als Treffpunkt nutzten. Es befand sich nicht viel Neues darin; ein Tisch und Stühle aus einem aufgelösten Haushalt, alte Holzkisten, die als Regale für Nähzeug, Pflanzenkeime in Töpfen, Erde und Gartengeräte dienten, verblichene rote Vorhänge und gesammelte Steine von Clays Vater. Trotzdem fanden sie es gemütlich und verbrachten im Sommer, wenn es in der Hütte warm genug war, viel Zeit hier damit, Clays Pflanzen zu pflegen oder Näharbeiten für die Fabrik zu machen und hatten viel Spaß dabei.Clay holte ein Päckchen aus der Kiste neben der Tür und wickelte ein paar belegte Brote und Apfelscheiben aus dem Papier. Sie setzten sich an den Tisch und er schob Mel ein Brot mit Käse zu, während er in seines mit Rinderwurst biss. Mel lächelte. Er wusste genau, was sie mochte.
"Was meinst du, was es wird?", fragte Clay.
Ohne, dass er erklärte, was er meinte, erkannte sie an seinem ernsten Blick, wovon er sprach. Worüber sollte man auch sonst reden, am Tag der Ernte?
"Ich weiß nicht. Könnte alles sein", erwiderte Mel und seufzte.
In den Jubiläumsjahren, jedem fünfundzwanzigsten Jahr der Hungerspiele, galten besondere Regeln. Welche das waren, wurden erst am Tag der Ernte preisgegeben. Fest stand, dass es bisher noch nie einen Vorteil für die Distrikte gegeben hatte.
Schaudernd erinnerte sie sich an das letzte Jubeljubiläum, dessen Zusammenfassung sie in der Schule hatten ansehen müssen. Im fünfundsiebzigsten Jahr der Spiele wurde die Altersbegrenzung der Tribute bis Achtzig gehoben, sodass ein Großteil der Teilnehmer erwachsen war. Ein schreckliches Jahr...
"Vielleicht sind es mehr als vierundzwanzig. Oder es gibt eine andere Arena", spekulierte Clay.
Als er sah, wie unglücklich Mel aussah, wechselte er das Thema.
"Wir könnten noch kurz weiternähen. Ich muss diese blöden Sachen bis Freitag fertig haben, egal, ob Ernte ist oder nicht."
"Okay"
Ihr bester Freund stand auf und zog die Stoffstücke aus einer Kiste, bevor er sich mit Nadel und Faden bewaffnet wieder zu Mel setzte und anfing, mit sauberen Stichen zu nähen.
Sie bewunderte ihn dafür, dass er selbst heute so ruhig blieb, und die Arbeit, die er für den Kleidungsladen in der Nähe erledigte, tun konnte. Ihre eigenen Hände waren so angespannt, dass sie den Stoff wahrscheinlich zerrissen hätte.
Plötzlich fiel ihr auf, dass sie ihr Rotkehlchen vergessen hatte.
Sie hatte den kleinen Glücksbringer bisher auf jeder Ernte dabeigehabt und auch sonst war er meistens in ihrer Jackentasche dabei. Nur ausgerechnet heute hatte sie ihn vergessen."Wie spät ist es?", fragte sie, bereits in niedergeschlagener Stimmung, weil ihr das vergessene Tier aufs Gemüt drückte.
"Hm? Kurz nach halb zwölf, glaub ich. Wieso, was ist los?"
"Ich habe mein Rotkehlchen vergessen."
"Oh, Willst du es noch holen? Wenn du dich beeilst, schafft du's."
"Ja, mach ich" Clay wusste, wie viel das kleine Stofftier ihr bedeutete.
Sie sprang auf, öffnete die Tür, rief ihrem besten Freund zu, sie träfen sich am Platz und rannte los.In wenigen Minuten hatte sie ihr Haus wieder erreicht. Ihre Eltern waren schon weg, um mit Bekannten am Platz zu reden, wie es so viele Eltern vor der Ernte taten, um sich gegenseitig zu beruhigen.
Gerade, als Mel die Eingangstür öffnete, ertönte die Sirene. Das Signal, dass sie sich in zehn Minuten am Platz befinden mussten. Hastig stieg sie die knarrende Holztreppe nach oben, sprintete in ihr Zimmer und griff nach dem Stoffvögelchen auf der Fensterbank. Auf dem Weg zurück zur Tür warf sie eilig einen Blick auf die Küchenuhr. Elf Uhr dreiundfünfzig. In sieben Minuten musste sie da sein, fünf brauchte sie bis zum Platz. Drei Minuten, wenn sie rannte.
Also rannte sie.Völlig außer Atem kam sie an der Straße an, die zum Hauptplatz von Distrikt Acht führte.
"Hey", sagte jemand mit freundlicher Tonlage hinter ihr.
Sie drehte sich um. Vor ihr stand Alec, der Sohn ihrer Nachbarin. Sie hatten nicht viel miteinander zu tun, er war aber immer nett zu ihr gewesen.
"Oh, hey", sagte sie und versuchte, wieder ruhiger zu atmen.
"Ich wünsch dir viel Glück. Du weißt schon", sagte er und spielte nervös mit dem Zipfel seines Hemdes, während sein Blick zwischen ihrem Gesicht und dem Platz hin und her huschte.
"Klar. Ich dir auch", erwiderte sie.
In der Reihe derjenigen, die sich noch eintragen mussten, entdeckte sie Clay.
"Ich muss los", sagte sie und lächelte Alec an.
Gerade, als Mel sich umdrehen und in die Richtung ihres besten Freundes laufen wollte, nahm Alec ihre Hand, und bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte, hatte er seine Lippen auf ihre gedrückt, "Bis bald" geflüstert und war verschwunden.
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Die 100. Hungerspiele: Täuschende Hoffnung
Hayran KurguWas wäre, wenn Katniss nie mit Peeta die 74. Spiele gewonnen hätte? Was wäre, wenn es die Hungerspiele immer noch gäbe? Eine mit Gefahren gespickte Arena, tödliche Gegner aus elf Distrikten und nur ein lebender Sieger am Ende: All das steht Mel, ein...