CN: Gedanken an Tod und töten, Waffen, Armut
Der zweite Trainingstag neigte sich dem Ende zu und Mel wurde bewusst, dass sie nur noch einen ganzen Tag zum Üben hatte. Bis zum Einzeltraining wollte sie möglichst viele Stationen durchgehen und so beschloss sie, nicht mehr Weniges intensiv, sondern flächendeckender zu lernen.
Innerhalb von einer Stunde ließ sie sich Wassersuche in den häufigsten Terrains erklären, übte vier verschiedene Knoten und versuchte, damit eine Falle für Kleintiere zu bauen.
Es war anstrengend, nebenbei auch noch die anderen Tribute zu beobachten. Mel stellte fest, dass die Karrieros viel Zeit an den Kampfstationen verbrachten, aber das war nichts neues. Cole konnte ganz gut Fallen stellen und Unterstände bauen, selbst aus kleinen Stöcken und Zweigen gelang ihm meist etwas, was vor Sonne oder Regen schützen konnte. Sie fragte sich, woher er das so gut konnte. Unbehagen beschlich sie. Was, wenn er es in Zwölf hatte können müssen? Weil er kein Haus hatte?
Energisch schüttelte sie den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. Es sollte sie nicht interessieren, wie er lebte. Sie sollte nicht an die Distrikte und die Familien denken. Das machte es nur schwerer... Mit einem Kloß im Hals blickte sie sich um. Viel Zeit blieb ihr heute nicht mehr. Was könnte sie noch ausprobieren?Mels Blick blieb an der Wand mit künstlichen Ästen, Felsvorsprüngen und Haken aus Kunststoff hängen. Klettern wäre sicher ganz nützlich, falls es Berge in der Arena gab. Oder Bäume.
Sie ging hinüber und der Trainer gab ihr ein paar Handschuhe.
"Damit du dir die Hände nicht aufschürfst."
Dann zeigte er ihr, wie man sich am besten auf den untersten Ast hangelte und von dort aus immer weiter nach oben stieg.
Es war gar nicht so schwer und obwohl sie nicht wirklich kräftig war, gelang es ihr, sich ohne wirkliche Probleme an den Ästen nach oben zu ziehen. Oben angekommen hielt Mel kurz an und ließ den Blick über die Halle schweifen, während sie wieder zu Atem kam. Irgendwie war es beängstigend, die anderen da unten alle kämpfen zu sehen und zu beobachten, wie sie die Zielscheiben durchbohrten mit Speeren, Schwertern und Messern. Jeder schien mehr mit den metallenen Waffen anfangen zu können als sie.
Und dennoch... Es waren nur elf andere. Und davon waren wahrscheinlich einige ihre Verbündeten. Ganz sicher Edda. Und vielleicht auch Cole und Edric.
Ein wenig Hoffnung keimte in ihr auf. So viele Gegner waren es doch gar nicht, oder?Mit schmerzenden Schultern kehrte sie am späten Nachmittag in ihr Appartement zurück. Das Klettern auf den Felsen war doch deutlich anstrengender und schwieriger gewesen als gedacht. Sobald sie in ihrem Zimmer war, fragte sie einen der Diener, ob er ihr noch mal Papier besorgen könne und fing an, ihre Beobachtungen über die Tribute und das gelernte Wissen aufzuschreiben.
Einige der essbaren Pflanzen fielen ihr wieder ein und es entstand eine krakelige Zeichnung der Falle. Auch die Theorie hinter dem Messerwurf und Feuer machen schrieb sie auf. Es war weniger Erlerntes als sie gedacht hatte, aber sie ließ sich nicht davon entmutigen. Morgen würde sie auch noch Heilkräuter und giftige Pflanzen lernen und versuchen, sie später aufzuschreiben. Dann konnte sie sie sich bis zum nächsten Tag einprägen, in der Arena würde das bestimmt nützlich sein.Nach dem Schreiben versank sie in Gedanken. Im Kopf ging sie die letzten Arenen durch, in der Hoffnung, es könne ihr einen Hinweis auf die bevorstehenden Spiele geben. Es kamen selten zwei ähnliche Gebiete hintereinander, um das Kapitol nicht zu langweilen. Wüste, Wald, Hügel. All das war schon recht lang her.
Aber dieses war ja kein normales Jahr. Die Arena konnte auch vollkommen anders aussehen, mit ungeheuren Gefahren gespickt und tödlicher als andere."Mel! Abendessen!", rief Maja vor ihrer Tür.
"Ich komme schon!", antwortete Mel, sprang von ihrem Bett auf und begab sich ins Esszimmer. Es duftete wirklich wunderbar nach gebratenem Fleisch und als Mel sah, was auf dem Tisch war, lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Ein ganzer gebratener Vogel war es, eine Gans vermutlich. Die gab es Zuhause nur zu Weihnachten.
Ob ihre Mutter jetzt wohl auch so etwas bekam?
Seit einigen Jahren war es üblich, dass die Familien der Tribute in ein spezielles Quartier in den Distrikten zogen und dort üppig vom Kapitol versorgt wurden, bis die Spiele vorbei waren. Theoretisch eine nette Geste - wenn nicht der Plan des Kapitols etwas anderes als Nettigkeit beabsichtigen würde.
Der Hintergrund war ziemlich schnell klar gewesen. Eigentlich war er schon während den ersten Spielen mit dieser Neuerung zutage getreten. Die armen und hungernden Familien, insbesondere die, die keine Kinder hatten, um die sie fürchten mussten, wurden mit Neid angestachelt. Wochen mit bestem Essen, einem warmen Bett und sauberem, heißem Wasser schienen sehr verlockend. Obwohl viele nach wie vor ihr Mitleid bekundeten, hielten sich ebendieses und Neid etwa die Waage.
Man munkelte, einige planten sogar, ihre Kinder in die Spiele zu schicken, um zu überleben. Das hielt Mel entschieden für ein Gerücht, allerdings erfüllte es seine Wirkung. Misstrauen und Neid standen den Familien der Tribute gegenüber.
Sie hoffte, ihre Mutter wurde nicht so angesehen. Und sie hoffte, sie würde diese Zeit wenigstens ein bisschen auskosten können. Sie versuchte das gleiche ja auch hier."Mel?"
Cecelias fragende Stimme holte sie aus ihren Gedanken.
"Hm? Entschuldigung. Was ist?", fragte sie zurück.
"Wie ist dein Tag gelaufen? Irgendwelche Fortschritte?", fragte ihre Mentorin erneut, während Mel sich ein Stück Fleisch, Gemüse und Buttersoße auf den Teller tat.
Sie grinste. Endlich gab es etwas Positives zu berichten!
"Ja, es gibt einiges zu berichten. Ich kann einigermaßen mit kleinen Wurfmessern umgehen. Und ich habe Verbündete gefunden!", verkündete sie stolz.
Überrascht sah Cecelia auf. "Wirklich? Wen?"
"Edda. Und vielleicht Cole. Sie wollte auch noch jemanden fragen. Wir treffen uns nach dem Essen auf dem Dach, um den Plan zu besprechen."
"Das ist jetzt schnell gegangen. Gut gemacht, Mel. Aber bitte pass auch auf, dass du ihnen wirklich vertrauen kannst."
Ihre Mentorin sah sie mit einem eindringlichen Blick an.
"Wir können keine Verräter riskieren. Und sei auch vorsichtig mit dem, was du preisgibst. Sag nicht zu viel über Deine Fähigkeiten. Nur den Plan besprechen!"
"Okay", erwiderte Mel, bevor sie sich voll und ganz dem Essen widmete. Es war wirklich köstlich heute Abend!Eine halbe Stunde später saß sie mit Edda, Cole und Edric auf Stühlen im Dachgarten. Um sie herum war alles vollgestellt mit Pflanzentöpfen, die Wände bewachsen mit Zierranken und überall wuchsen Blumen in unvorstellbaren Formen und Farben. Ob es hier wohl Kameras gab? Wahrscheinlich schon. Im Zug und in der Trainingshalle hatte sie auch einige entdeckt. Es gab ihr ein Gefühl des Unwohlseins, ständig unter Beobachtung zu sein. In der Arena würde es nicht anders sein, immerhin gab es dort überall versteckte Geräte, die das Geschehen live ins Fernsehen übertrugen.
"Wo bleibt denn Lenox?", fragte Edda beunruhigt und strich sich zum wiederholten Male die hellbraunen Haare nach hinten. Wenn der Junge aus Distrikt Sechs nicht auftauchte, war der ganze Plan in Gefahr. Er könnte jedem davon erzählen, Bündnisse mit den Karrieros schließen.
In dem Moment öffnete sich die Tür zum Dach und er trat hindurch. Als er sah, dass er der letzte war, sagte er: "Tschuldigung, meine Mentoren haben mich ausgefragt" und huschte schnell zu dem letzten noch nicht belegten Platz.
Alle wurden still und blickten Mel erwartungsvoll an."Ähm... Danke, dass ihr gekommen seid?", sagte sie unsicher.
"Edda und ich haben euch geholt, weil wir einen Plan haben. Oder ich habe einen Plan, wie auch immer, wir brauchen eure Hilfe."
"Und was ist der Plan?"
Mel seufzte und holte weiter aus.
"Wir können die Karrieros nicht besiegen. Es ist dumm, sich da Hoffnungen zu machen, sie sind einfach zu stark und gut ausgebildet. Beziehungsweise, alleine wäre das dumm. In einer Gruppe könnte man das schaffen."
Die anderen hörten ihr zu, das sah sie an den aufmerksamen Blicken.
"Ich habe mir einen Plan ausgedacht, wie wir sie in einer Falle töten könnten. Dann müssten wir keine offene Front bilden. Also, ..."
Mel lag in ihrem Bett und versuchte, die Gedanken abzustellen, um schlafen zu können.
Es konnte so viel schiefgehen bei ihrem Plan. Der Lockvogel konnte zu schnell gefunden werden. Oder es gab kein geeignetes Terrain, um die Karrieros in die Falle zu locken. Und was, wenn sie es doch nicht schafften, sie in dem Hinterhalt zu töten? Dann wären sie alle das größte Ziel der Karrieros.Plötzlich kam die Erkenntnis wie ein Schlag aus der Dunkelheit.
Sie musste töten.
Sie, Mel aus Distrikt Acht, musste in weniger als drei Tagen dazu bereit sein, jemandem das Leben zu nehmen, um ihr eigenes zu retten. Ihr wurde schlecht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie das über sich bringen würde.
Jetzt schlich sich die Frage in ihre Gedanken, die sie die ganze Zeit über verdrängt hatte. Würde sie töten, um sich zu retten? Würde sie im Notfall auch Edda töten, oder einen anderen Verbündeten? Oder Avery?
Nein!
Doch dann sah sie ihre Mutter vor sich, Alec und Clay, ihre Bekannten von Zuhause, die sie nie wieder sehen würde.
Sie hatte versucht, sie aus ihrem Kopf zu kriegen, um nicht an den bevorstehenden Ereignissen zu zerbrechen. Doch tief in ihr hatte sich etwas bewegt. Etwas hatte Wut geweckt und geflüstert "Töte die anderen, um nach Hause zu kommen".
Das Heimweh und der Schmerz brachen wie eine Welle über sie herein. Schluchzend richtete sie sich auf, nur um sich Sekunden später wieder in die Kissen zu werfen. Sie wollte nach Hause! Sie wollte nicht töten, um heimzukommen. Sie wollte einfach nur noch weg.
Tränen liefen über ihre Wangen und sie krümmte sich zusammen, machte sich klein und versteckte sich unter der Decke.
Sie wollte nicht töten, verdammt! Die Frage, ob sie es trotzdem tun würde, ließ sie sich in den Schlaf weinen.
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Die 100. Hungerspiele: Täuschende Hoffnung
Fiksi PenggemarWas wäre, wenn Katniss nie mit Peeta die 74. Spiele gewonnen hätte? Was wäre, wenn es die Hungerspiele immer noch gäbe? Eine mit Gefahren gespickte Arena, tödliche Gegner aus elf Distrikten und nur ein lebender Sieger am Ende: All das steht Mel, ein...