Niemand stellte Fragen, als sie zurück in das Appartement kam. Es war offensichtlich, dass sie geweint hatte und das war ihr klar. Sie brauchte es nicht zu verstecken. Wozu auch?
Es verging noch eine halbe Stunde, bis Maja den großen Fernseher im Wohnzimmer anschaltete. "Mel, es fängt an!", rief sie und Mel hastete aus ihrem Zimmer, in dem sie bis eben gesessen hatte.
Auf dem großen Bildschirm war Cenhelm Saxton zu sehen. Er war der Nachfolger von Caesar Flickerman, einem bekannten Moderator, der bis zu den neunzigsten Spielen dabei gewesen war. Mel erinnerte sich an die Bilder von ihm, die sie im Unterricht über Panem gesehen hatte.
Cenhelm war groß und hatte schwarze Haare, die er sich mit viel Gel nach hinten gekämmt hatte. Er hatte weiche Gesichtszüge und eine auffällig helle Haut, ansonsten sah er vollkommen normal aus, nicht kapitol-typisch verzerrt und geschminkt.
"Ladys und Gentlemen, das Training der zwölf Tribute ist abgeschlossen und Sie wissen, was das bedeutet! Heute präsentiere ich Ihnen die Ergebnisse des Einzeltrainings! Fangen wir an wie üblich: Mit Distrikt Eins!", sagte der Moderator enthusiastisch. Neben ihm erschien das Bild von Yorick und eine leuchtende, gelbe Zehn über dem Portrait.
Mel stöhnte innerlich auf. Dass er so eine hohe Punktzahl bekommen hatte, war schlecht.
Davina folgte mit acht Punkten, und das, obwohl sie erst vierzehn Jahre alt war. Dann wurde Eddas Bild eingeblendet. Mel hielt automatisch den Atem an. Bitte, Edda musste eine gute Zahl haben!
Sieben Punkte.
Mel stieß die Luft wieder aus. Sieben war gar nicht so schlecht. Nur knapp unter Davina und immerhin in der oberen Hälfte!
Storm aus Vier bekam neun Punkte und Eskil, der zwölfjährige aus Fünf erreichte vier Punkte. Sie musste schlucken. Er war so jung und hatte kaum Chancen auf Sponsoren mit so einer Zahl...
Dann, endlich, nach Lenox und Edric mit acht und neun Punkten, erschien ihr Foto neben Cenhelm. Sie biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten zusammen.
Bitte, lass es eine gute Zahl sein!, dachte sie und starrte auf den Bildschirm. Dann erhob der Moderator die Stimme.
"Melody Hook aus Distrikt Acht hat eine Punktzahl von Sechs erreicht."
Für einen kurzen Moment blieb es still und Mel wartete angespannt auf die Reaktion von ihren Mentoren und Maja. Letztere begann als erste zu sprechen. "Das ist gar nicht schlecht für dich, Mel. Immerhin hast du nur wenig üben können!"
Auch Cecelia sagte nun etwas: "Sechs ist okay. Ein gutes Mittelfeld. Und immerhin hast du ziemlich starke Verbündete."
Sie selbst blieb stumm. Sechs, war das wirklich okay, oder sagten sie das nur, um sie zu trösten? Immerhin war sie auch vom Alter her in der Mitte und mit ihrer Punktzahl könnte sie zufrieden sein.
Sie blickte auf und sah gerade noch, wie eine gelbe Drei verschwand. Danach wurde Distrikt Elf eingeblendet. Das bedeutete... Die Drei gehörte zu Avery.
Bestürzt musste sie schlucken und ihr Herz zog sich zusammen. Der Junge aus dem elften Distrikt bekam sieben Punkte und Cole schaffte acht. Das hieß, Avery hatte die niedrigste Zahl von allen.Maja sprang auf und schaltete den Fernseher aus.
"Na, dann wollen wir mal zu Abend essen, oder?", fragte sie fröhlich und blickte in die Runde. Cecelia und Indigo erhoben sich und auch Mel ging mit ihnen zum Esstisch. Sie hatte überhaupt keinen Appetit, jetzt, nachdem sie Averys Zahl gesehen hatte. Das Mädchen tat ihr so leid, und sie fühlte sich schuldig, weil sie nicht mehr mit ihr trainiert hatte. Hätte sie besser abgeschnitten, wenn Mel ihr geholfen hätte? Augenblicklich überfiel ihr schlechtes Gewissen sie.
Sie fragte sich, ob es besser gewesen wäre, nicht auf Cecelia zu hören, aber nun war es nicht mehr zu ändern. Und Zeit, um mit Avery zu reden, hatte sie auch nicht mehr.
Traurig brachte sie das Essen hinter sich und verkroch sich dann in ihrem Bett. Stunden später war sie eingeschlafen.Im Gegensatz zum gestrigen Tag wurde Mel heute früher geweckt als sonst. Maja kündigte an, dass sie zuerst mit Cecelia und Indigo ihre Strategie für das Interview besprechen und danach mit dem Outfit von Morius das äußerliche Auftreten üben würde.
Der Vormittag mit Cecelia und Indigo zog sich lang, weil die beiden nicht sicher waren, welche Strategie die Beste für Mel wäre.
"Stolz und aufrecht? Das kauft ihr doch keiner ab!", sagte Cecelia laut und Mel fühlte sich schlecht. Sie hatte gestern beim Einzeltraining wirklich versucht, stark auszusehen, aber offenbar hielten ihre Mentoren das nicht für überzeugend.
"Oder wir lassen sie einfach sie selbst sein?", fragte Indigo.
"Aber wie soll sie dann die Sponsoren beeindrucken? Sie muss etwas nach außen tragen, was einen Effekt hat, etwas, das zeigt, dass sie überleben kann!"
"Aber könnte sie es nicht auch mit einer Strategie probieren, die sie auch wirklich vertritt? Was ist mit dem Rennen und Klettern? Das ist doch auch wichtig beim Überleben!"
So stritten sie weiter. Mel saß unbeachtet daneben und überlegte bei jeder neuen Ansicht, ob sie es schaffen könnte, das so herüberzubringen. Nach ungefähr einer halben Stunde, in der sie kein einziges Wort gesagt hatte, waren sich ihre Mentoren endlich halbwegs einig über das, was sie später beim Interview vertreten sollte.
"Also, du sollst vermitteln, dass du Stärken hast, die in der Arena sehr nützlich sind und dass du mehr kannst als man dir ansieht. Versuch dabei, natürlich und freundlich zu sein, aber nicht zu lieb herüberzukommen. Stark zu spielen können wir vergessen, du musst versuchen, Sponsoren zu gewinnen, indem du indirekt Stärke zeigst.", erklärte Cecelia.
"Ähm... Also im Grunde so eine Mischung aus freundlich und gefährlich?", fragte sie nach.
"Ja. Wir glauben, dass das am besten für dich passt."
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Die 100. Hungerspiele: Täuschende Hoffnung
FanfictionWas wäre, wenn Katniss nie mit Peeta die 74. Spiele gewonnen hätte? Was wäre, wenn es die Hungerspiele immer noch gäbe? Eine mit Gefahren gespickte Arena, tödliche Gegner aus elf Distrikten und nur ein lebender Sieger am Ende: All das steht Mel, ein...