Kapitel 6

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CN: Gedanken an Tod und töten, Waffen


Mel saß in ihrem Zimmer und sah die Auswahlzeremonien der anderen Distrikte an. Die Leinwand hatte eine Art Fernsehfunktion und zeigte den offiziellen Kapitolsender, auf dem alles gezeigt wurde, was mit den Hungerspielen zusammenhing. Sie zeigte das Bild so scharf, wie nicht einmal der Strahler im Rathaus es tat.
Mel hatte sich ein paar Blatt Papier und einen Bleistift bringen lassen und machte sich nun Notizen über die Tribute.
Da waren die Karrieros aus Eins, Zwei und Vier, dieses Jahr ein Junge und zwei Mädchen. Der Junge aus eins, Yorick, war sechzehn Jahre alt, während Davina und Storm vierzehn und sechzehn waren. Für einen kurzen Augenblick wunderte Mel sich, dass sie nicht älter waren, so wie sonst immer, bis ihr einfiel, dass es ja keine Freiwilligen hatte geben dürfen. Trotzdem glaubte sie, dass Davina um einiges stärker, schneller und gefährlicher war als sie selbst, obwohl diese ein Jahr jünger war als sie.
Aus Distrikt Drei folgte Edda, die siebzehn Jahre alt war. Die Jungen aus Fünf und Sechs waren zwölf und achtzehn Jahre alt. Mel musste schlucken. Damit hatte sie Gegner, die ganz unten und ganz oben an der Altersgrenze waren. Edric aus Distrikt Sieben war ebenfalls volljährig, der Junge aus Neun war vierzehn und Avery, ihre heutige Trainings- und Gesprächspartnerin war gerade einmal dreizehn Jahre alt. Erneut schauderte es Mel. Sie war mit ihren fünfzehn Jahren in der Mitte und mochte es sich gar nicht vorstellen, wie es für das junge Mädchen sein musste, völlig allein im Kapitol zu sein.
Elyan aus Zehn war gleich alt wie Mel und aus dem letzten Distrikt kam Cole mit siebzehn Jahren.

In Anbetracht ihrer Konkurrenten schätzte Mel ihre Chancen etwa mittelmäßig ein. Ein paar der Jüngeren könnte sie wohl besiegen, die Älteren stellten vielleicht Verbündete dar.
Auf einmal wurde Mel bewusst, was sie da gerade gedacht hatte und ihr Herz krampfte sich zusammen. Machte sie jetzt schon Pläne, wie sie möglichst viele Tribute töten konnte?
Tränen stiegen ihr in die Augen, während sie den Gedanken weit weg schob. Unter einem stummen Aufschluchzen warf sie die Notizen vom Bett und vergrub sich weinend unter der Decke. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie wollte dieses beschissene Training nicht mehr machen. Sie wollte nicht die Namen der Tribute kennen und nicht wissen, wie ihre Familien aussahen. Sie wollte verdammt noch mal nicht in der Arena sterben!
Dann tauchten auch noch Clay, Alec und ihre Mutter vor ihrem inneren Auge auf und sahen ihr dabei zu, wie sie in den Spielen zu einer Mörderin wurde. Alec. Der Kuss, der seine ganze Bedeutung verloren hatte.
Nun kamen doch Geräusche aus Mels Kehle. Schluchzer schüttelten sie und heiße Tränen rannen ihre Wangen herab und hinterließen nasse Flecken auf dem Laken, während sie sich ganz ihrer Verzweiflung hingab.

Sie konnte nicht einschätzen, wie viel Zeit vergangen war, bis sie sich wieder beruhigte, aber als sie aus dem Fenster blickte, war der Himmel dunkelblau und klar. Sie schleppte sich in das Badezimmer und starrte mit schmerzenden Augen in ihr Spiegelbild. Sie waren rot vom Weinen und brannten, ihre Haare waren durcheinander und ihre Haut wirkte fleckig und blass im kalten Licht der Lampe.
Mel putzte sich die Zähne und zog sich um. Anschließend krabbelte sie unter ihre Decke, rollte sich zusammen und schloss ihre brennenden Augen. Es dauerte nicht lange, bis sie vor Erschöpfung eingeschlafen war.

Maja weckte sie am nächsten Morgen und Mel spürte sofort nach dem Aufwachen die Spuren des gestrigen Zusammenbruchs. Sie fragte einen der Diener nach etwas gegen Kopfschmerzen und bekam beim Frühstück, dem heute auch Morius beiwohnte, eine Tablette von Indigo. Schon nach wenigen Sekunden ließ der Druck hinter den Schläfen nach und sie hatte das Gefühl, wieder klarer denken zu können.
"Melody, du sollst heute zu den Kampfstationen gehen.", fing Cecelia an, den heutigen Trainingsplan zu erläutern, und Mel gab sich Mühe, diesmal zuzuhören. "Wenn wir Sponsoren anwerben wollen und die weiteren Vorgehensweisen planen, müssen wir wissen, womit wir arbeiten können." Morius, der heute ebenfalls Teil der Runde war, fuhr fort: "Probier dich durch. Teste alles. Wenn du selbst hinterher nicht weißt, was du kannst, hilft uns das gar nicht."
Danach wendete sich das Gespräch den Tributen zu. "Versuche, so viele von ihnen wie möglich kennenzulernen. Trainiere und sprich mit ihnen, oder beobachte sie. Wir müssen möglichst viel über Stärken und Schwächen erfahren.", wies Cecelia sie an.
"Okay. Ich denke, ich werde wieder mit Avery trainieren.", antwortete Mel.
Ihre Mentoren und Maja tauschten einen kurzen Blick aus und eine kurze Pause entstand, in der sich alle ansahen. Nach einigen zähen Sekunden erhob Maja zaghaft das Wort.
"Die Sache ist die Mel... Wir möchten, dass du von jetzt an nicht mehr mit Avery zusammen bist."
"Du trainierst nicht mehr mit ihr. Du isst nicht mit ihr und du redest nur mit ihr, wenn es nicht vermeidbar ist.", sagte Cecelia mit einem Blick, der sowohl Härte als auch Mitgefühl ausdrückte.
"Was?!", entfuhr es Mel fassungslos, "Warum das denn?" Was sollte das jetzt? Diese Anweisung war völlig unverständlich. Warum sollte sie nicht mehr mit Avery reden dürfen? Das Mädchen war nett und außerdem allein. Mel wollte ihr gern Gesellschaft leisten.
"Sie ist jung und nicht wirklich talentiert. Wir möchten nicht, dass dieser Ruf auf dich abfärbt. Außerdem machst du so einen schwachen Eindruck auf potenzielle Verbündete.", sage Morius knapp und kühl.
Wut brodelte in Mel hoch. Das hier waren ihre letzten Tage außerhalb der Arena und sie durfte nicht einmal bestimmen, mit wem sie sich abgab?!
"Na schön, dann geh ich halt zu den Karrieros!", fauchte sie, stand abrupt auf und stieß ihren Stuhl dabei um. Ohne sich zu verabschieden, verließ sie den Raum und ging mit wütenden Schritten in Richtung Fahrstuhl.

Weit kam sie allerdings nicht. Cecelia holte sie ein und nahm sie am Arm. Wütend riss Mel sich los, folgte ihrer Mentorin aber trotzdem zu einer Nische in der Wand, in der sie sich niederließen.
"Mel, ich weiß, das ist nicht fair, aber es ist langsam der Zeitpunkt da, wo du aufhören musst, an andere zu denken. Wenn du überleben willst, musst du stark sein und Sponsoren gewinnen. Dein Auftritt bei der Eröffnungsfeier war zwar nicht schlecht, aber noch lange nicht genug. Das Training muss Punkte bringen." Eindringlich sah die Mentorin Mel in die blauen Augen, bevor sie weiterredete.
"Avery hat sicher auch Talente, aber sie ist jung. Und das ist nun mal ein Nachteil, egal wie unfair es auch klingen mag. Du brauchst Kämpfer, probiere es mal mit Cole oder Edda. Und auch, wenn es für dich unmachbar klingt, versuche, den Tributen aus Zwei und Vier näher zu kommen. Vergiss deinen Plan nicht. Und vergiss auch nicht, dass wir es erfahren werden, wenn du dich nicht an unsere Anweisungen hältst. Mir macht das nichts aus, aber es schadet dir. Und zwar gewaltig."
Mel nickte schwach.
"Gut", sagte Cecelia, "Es ist deine einzige Chance."
Dann schritt sie davon und entließ Mel in den Trainingstag.

Heute wurden sie nicht von Ada begrüßt. Um neun Uhr ertönte nur ein Pfiff und dann war das Training eröffnet. Mel schloss sich einer Gruppe aus drei Tributen an, die in Richtung der Kampfstationen zogen und versuchte, nicht in Averys Richtung zu schauen. Sie hatte beschlossen, sich an die Anweisungen ihrer Mentoren zu halten, so sehr es ihr auch leidtat, Avery allein zu lassen. Sie hatte definitiv keine Lust, sich mit den beiden anzulegen, wobei Indigo das geringere Problem war. Cecelia war zwar durchaus nett, hatte aber eindrucksvoll bewiesen, dass sie sich durchsetzen konnte.

Die anderen drei aus der Gruppe stellten sich ihr vor, es waren Edda aus Distrikt Drei, Garrick aus Neun und Elyan aus dem elften Distrikt.
Da die beiden Jungen Schwerttraining machen wollten, ergriff Mel die Chance, um mit Edda Messerwurf auszuprobieren. Dabei gäbe es sicher gute Gelegenheiten, sie kennenzulernen und sie möglicherweise schon in den Plan einzuweihen. Cecelia hatte extra betont, dass sie es bei ihr versuchen solle.
"Hey", eröffnete sie das Gespräch in einem lockeren Ton. Edda lächelte und fragte sie, ob sie schon mal Messer geworfen habe.
"Nein, hab ich nicht. Und du?"
"Gestern für eine Viertelstunde."
Der Trainer war freundlich und präzise. Er sah Mel genau an und wählte sechs etwa handlange, schwarze Wurfmesser aus, mit denen sie anfangen sollte. Sie stellte sich in Startposition und folge den Anweisungen des Leiters, indem sie seine Bewegungen nachahmte. Die ersten drei Durchgänge verliefen erfolglos, alle Messer prallten an den Zielformen ab und fielen zu Boden. Beim vierten Mal blieben aber zwei Messer von Mel und eines von Edda stecken.
"Gut gemacht!", sagte Edda und strahlte sie an.
"Danke, du aber auch."
Sie übten weiter und schafften es immer öfter, einen der Umrisse zu treffen. Die Zeit verflog, während sie sich mehr unterhielten. Edda erzählte etwas über ihre Familie und wie sie ihre ältere Schwester und ihre Eltern hatte zurücklassen müssen. Mel erzählte von ihrer Mutter und ihrem Haus und nach einer Weile traute sie sich sogar, von Alec zu reden. Den Kuss erwähnte sie aber nicht. Sie wusste ja nicht einmal selbst, ob sie etwas für ihn empfand. Und selbst, wenn... Gefühle waren jetzt ein Hindernis.

Bevor die Mittagspause anfing, probierten die beiden sich noch in Bogenschießen, was von der Technik her kein großes Problem für Mel darstellte. Es brauchte keine wirklich ungewohnten Bewegungen oder viel Kraft zum Spannen des Bogens. Aber sie traf kaum und die Leiterin der Station meinte, sie bräuchte wohl mehr Zeit zum Üben. Zeit - die hatte Mel leider nicht viel. Sie beschloss, das Schießen aufzugeben und lieber etwas zu machen, was besser klappte.
Sie fragte Edda, ob sie zusammen zu Mittag essen wollten und das Mädchen bejahte. Und dann fing Mel an, ihren Plan umzusetzen.

"Was hältst du von den Karrieros?", fragte sie geradeheraus, nachdem sie sich zu zweit an einen Tisch gesetzt hatten.
Edda blickte sie leicht erschrocken an. "Was soll ich von ihnen halten? Jeder weiß, dass es unfair ist, dass sie vor der Arena trainieren. Immerhin sind es dieses Jahr keine Freiwilligen, trotzdem unterschätze ich sie nicht." Prüfend sah sie Mel ins Gesicht. "Du bist aber kein Spitzel von ihnen, oder? Ich halte dich nicht für so einen Menschen."
"Nein!", bestätigte Mel hastig, "Im Gegenteil. Ich... Ich habe einen Plan, wie man sie ausschalten könnte."
Das war gewagt. Wenn Edda nichts gegen die Karrieros unternehmen wollte, war die ganze Idee des Plans jetzt in ihren Händen. Aber aus irgendeinem Grund glaubte Mel nicht, dass das Mädchen aus Distrikt Drei sie enttäuschen würde. Sie wirkte so aufrichtig.
"Wirklich? Und du... du möchtest mich dabeihaben, richtig?", fragte Edda nach einer halben Minute in Schweigen.
"Um ehrlich zu sein, ja. Ich glaube, du bist talentiert und beim Training hab ich ja gesehen, dass du ganz gut mit Waffen umgehen kannst."
"Na ja, so gut auch wieder nicht, aber vielleicht besser als andere."
"Also... Wärst du bereit, dir den genauen Plan anzuhören?"
"Ja, das bin ich. Aber wohl nicht hier, oder? Wir könnten auf den Dachgarten gehen."
"Den Dachgarten?", fragte Mel.
"Du kennst den noch nicht? Man muss einfach mit dem Aufzug in den dreizehnten Stock fahren."
"Echt? Wie toll!", sagte Mel ehrlich erstaunt. "Ähm... Kennst du vielleicht noch andere Leute, die mitmachen würden? Es sollten so viele wie möglich sein."
"Stimmt. Ich könnte Lenox fragen. Und Edric aus Sieben macht bestimmt auch mit."
"Das ist super! Treffen wir uns heute um achtzehn Uhr auf dem Dach? Und bringst du die beiden mit?"
"Okay, mache ich. Dann besprechen wir alles."
Wir.
Edda hatte wir gesagt und klang so ehrlich und freundlich. Sie nahm Mel wahr und respektierte das, was sie sagte. Und sie war sogar vollkommen bereit dazu, ihren Plan anzuhören und sofort mitzumachen!
Das überraschte sie, denn schließlich war das Mädchen aus Distrikt Drei zwei Jahre älter als sie. Mel war es nicht gewohnt, von älteren Menschen so behandelt zu werden, als sei sie kein kleineres Kind, denn die Näher in der Fabrik und im Laden schauten alle ziemlich auf sie und Clay herab. Es gab ihr ein neues, gutes Gefühl.

Die 100. Hungerspiele: Täuschende HoffnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt