CN: Waffen
Mel schlief nicht viel und war am nächsten Morgen dementsprechend so müde, dass sie die Augen kaum aufbekam und fast zu spät zum Frühstück kam.
"Mel! Es ist dein erster Trainingstag! Du musst ausgeruht und kräftig sein!", rügte Maja sie und fing hastig an, ihr die Strategien zu erläutern, die Indigo und Cecelia gestern noch ausgearbeitet hatten.
"Beobachten! Nur beobachten und deine Mittribute kennenlernen. Das solltest du hinbekommen, es sind ja nur elf."
Mel war zu erschöpft, um wirklich am Gespräch teilzunehmen und nickte nur hin und wieder. Als sie jedoch zwanzig Minuten später im Aufzug stand und nach unten in die Trainingshalle raste, wünschte sie sich, zugehört zu haben. Was hatte ihre Betreuerin eben erzählt? Es ging um ein paar neue Trainingsstrategien. Aber wie funktionierten die? Idiot!, beschimpfte sie sich. Warum hatte sie nicht zugehört? In der Arena konnte sie sich keine Sekunde Müdigkeit leisten.
Kurz darauf erreichte das Mädchen den Treffpunkt für den Trainingsstart. Sie gehörte zu den ersten vier Eingetroffenen, soweit Mel sich erinnern konnte, waren es die Tribute aus Distrikt Sechs und Neun und das Mädchen aus Drei. Insgeheim verfluchte sie sich dafür, sich noch nicht die Ernten der anderen Distrikte angesehen zu haben und sich wenigstens Name und Alter ihrer Konkurrenten eingeprägt zu haben.
In den nächsten Minuten kamen die anderen Tribute nacheinander in die große Halle und Mel fühlte sich etwas verloren. Eingeschüchtert setzte sie sich an den Rand auf einen der harten Sitze und versuchte, den Überblick zu behalten und gleichzeitig nicht aufzufallen, was darin endete, dass sie fast ausschließlich zu Boden starrte. Jeder Neuankömmling schien sie zu mustern und erneut rügte Mel sich in Gedanken dafür, vollkommen unvorbereitet in den ersten Trainingstag gegangen zu sein.
Es war ungewohnt, nur elf andere Jugendliche um sich herum zu haben. Aus den anderen Jahren, die sie im Fernsehen hatte ansehen müssen, wusste sie, wie es normalerweise mit vierundzwanzig Tributen war. So war es viel schwerer, unterzutauchen, nicht aufzufallen. Trotzdem war sie laut Morius noch nicht genug aufgefallen, um viele Sponsoren anzulocken. Ein wenig verloren fühlte sie sich zwischen all den Meinungen und Strategien.
Als um Punkt neun Uhr die Trainingsleiterin den Raum betrat und die zwölf Tribute zu sich rief, sprang Mel erleichtert auf und stellte sich zu den anderen in den Halbkreis.
"Willkommen zu eurem ersten Trainingstag, Tribute.", fing die Frau an.
Jetzt sind wir nur noch namenlose Tribute, dachte Mel mit einem Anflug von Verbitterung.
"Ich bin Ada, die leitende Trainerin. Ich nehme an, eure Mentoren haben euch bereits in die neuen Möglichkeiten eingewiesen, trotzdem stehen an den Stationen jederzeit Trainer bereit, die ihr fragen könnt."
Glück gehabt...
"Mein Rat ist: Unterschätzt weder Waffen noch Überlebensstrategien. In der Arena wird beides nötig sein, und auch, wenn die Todesrate durch Waffen höher liegt als bei der durch natürliche Ursachen wird euch die Arena mehr zu schaffen machen als eure Gegner. Passt auf, dass ihr nicht einseitig trainiert. Schutz im Gelände ist so wichtig wie ein Schwert im Kampf."
Das Übliche halt. Die Ansprache wurde jedes Jahr im Fernsehen ausgestrahlt, genauso wie die Ergebnisse des Trainings. Der Text hatte jedes Mal den gleichen Inhalt und nach einigen Jahren konnte Mel ihn auswendig.
"Ihr dürft jetzt gehen.", schloss Ada den Vortrag ab und schritt auf eine Wand zu, die sich automatisch zu den Seiten öffnete und eine Treppe offenbarte, welche auf die erhöhte Tribüne führte. Von dort aus würden sie die nächsten drei Tage beim Üben beobachtet werden und die Einschätzungen der Trainer und ihre Ergebnisse bei den verschiedenen Stationen würden als Ergebnis zu sehen sein. Diese Punktzahlen waren mit dem Einzeltraining eine der wichtigsten Stützen für Sponsoren.Mel überlegte, welche Station sie zuerst besuchen sollte. In der Halle gab es Übungen zum Feuer machen, Unterstände bauen, essbare Pflanzen und Tiere identifizieren, Konzentrationsspiele, Krafttraining, Ausdauer, Parcours, Knoten machen und Fallen stellen. Man konnte alle erdenklichen Waffen ausprobieren: Bögen, Schwerter, Speere, Sicheln, Messer, Äxte, Keulen und Nahkampftechniken standen zur Auswahl. Mel konnte sich nicht vorstellen, mit einer großen Axt oder einem Schwert Erfolg zu haben, dazu hatte sie einfach zu wenig Kraft. Und vorerst wollte sie sich sowieso den Überlebensstrategien widmen.
Als sie sich umsah, merkte sie, dass sie nicht die Einzige war, die noch unschlüssig herumstand. Ein jüngeres Mädchen, das etwa dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein musste, hatte sich am Rand der Halle niedergelassen und blickte schüchtern zu Mel. "Hey", sagte diese und machte ein paar Schritte auf die Jüngere zu. "Ich bin Mel."
"Hey, ich bin Avery, aus Zehn", erwiderte sie und schaute ihr mit einem vorsichtigen Lächeln in die Augen.
Um die Situation nicht komisch ausklingen zu lassen, fragte Mel sie, ob sie zusammen üben wollten, ein Feuer zu machen und Avery bejahte.
Mel hatte Zuhause schon oft Holz im Kamin angezündet, aber da hatte sie Streichhölzer gehabt. Auch Avery hatte keine Erfahrung damit und als der Trainer ihnen auch noch feuchtes Holz zum Üben gab, verließ die Beiden endgültig die Hoffnung. Doch nach mehrmaligem Nachfragen und etwa einer Stunde Übung loderte tatsächlich eine kleine Flamme im Laub. Das Gespräch zwischen ihnen war am Anfang recht steif und immer wieder gab es unangenehme Pausen. Mel hatte den leisen Verdacht, dass es Averys Anweisung war, nichts preiszugeben, aber nachdem sie selbst ein wenig erzählt hatte, schien das junge Mädchen aus Distrikt Zehn ihr mehr zu vertrauen. In Mels Gedanken formte sich ein Plan...Nach dem Feuermachen trennten sie sich und Mel beschloss, es mit den verschiedenen Parcours zu probieren. Das steife Sitzen am Boden hatte ihr Lust auf Bewegung gemacht. Die Ecke mit den Laufstrecken befand sich an der gegenüberliegenden Seite der Halle mit der Tribüne der Spielemacher. Sie betrachtete das Kraftfeld mit Informationen, das vor ihr aufgetaucht war. Das musste eine der neuen Techniken sein, von denen Cecelia heute Morgen gesprochen hatte.
Kaum hatte sie eine Strecke gewählt, die leichteste mit einigen niedrigen Hindernissen, und sich auf den Startpunkt gestellt, bildeten sich wie aus dem Nichts heraus gelb leuchtende Blöcke und Stangen. Das mussten Hindernisse sein, die aus dem Kraftfeld gebildet wurden. Sie hatte keine Ahnung, wie so etwas funktionierte.
Mel sprintete los. Tauchte unter der ersten Stange auf Kopfhöhe hindurch und sprang aus vollem Lauf über den Kasten, der eineinhalb Meter dahinter stand. Nach wenigen Sekunden war die Strecke schon vorbei und da kein anderer Tribut wartete, spielte Mel mit den Einstellungen und arbeitete sich nach und nach durch die Schwierigkeitseinstellungen.
Die Ziele fingen an sich zu bewegen, die Kästen wurden höher und die Stangen niedriger. Das Laufen klappte zwar ganz gut, trotzdem hatte sie am Ende nur eine mittelmäßige Leistung erreicht, wie die Leuchttafel es ihr anzeigte, bevor sie die Station verließ und das Ergebnis für nachfolgende Trainierende unsichtbar wurde. Am Tempo und Ausweichen müsste sie wohl noch arbeiten, um die Punktzahl nach oben zu treiben.Vor der Mittagspause, in der Mel sich mit Avery zusammen an einem reichlichen Buffet bediente, übte sie noch, essbare Pflanzen zu erkennen und wagte sich nach dem Essen schließlich an den Nahkampf ohne Waffen. Die Trainingsleiterin dieser Disziplin war zum Glück nicht viel größer als sie und zeigte Mel geduldig, wie sie sich hinstellen musste.
"Das linke Bein muss nach vorn, wenn du mit rechts schlägst. Dann verlierst du nicht das Gleichgewicht. Versuch, die empfindlichen Stellen zu treffen. Gesicht, Hals, Brust oder Bauch." Mel nickte aufmerksam und die Trainerin begann, die Einstellungen für die Übung einzugeben.
"Einfachste Stufe?"
"Ja, bitte. Ich hab noch keine Erfahrung.", erwiderte Mel und die Leiterin startete mit einem wissenden Nicken die Programmierung des Kraftfeldes.Am Abend saß sie total gerädert mit Indigo, Maja und Cecelia am Tisch und wurde über sämtliche Einzelheiten des Tages ausgequetscht, während sie aßen. Ihre Mentoren schienen recht zufrieden zu sein über das, was sie gelernt hatte. "Feuer machen ist immer gut. Pflanzen erkennen ist fast lebensnotwendig und Laufen könntest du gebrauchen. Was hast du an Kampftechniken gemacht?", fragte Cecelia.
"Nahkampf ohne Waffen, das war okay, aber die Trainingsleiterin war auch etwa gleich groß wie ich. Speerwurf hab ich auch probiert, aber die sind alle weit daneben gegangen." erwiderte Mel etwas niedergeschlagen.
"Das wird schon. Teste alles aus, irgendetwas liegt dir bestimmt", versuchte Maja, sie aufzumuntern, während sie ihr noch mehr Nachtisch aufhäufte. Mel lächelte ihr zu, was Maja gerührt zurückgab.
"Mel, hast du schon andere Tribute beobachtet?", wollte Indigo wissen.
"Ich habe mit Avery aus Zehn geredet und ansonsten die Karrieros an den Kampfstationen gesehen. Sonst aber nicht viel. Ähm... Könnte ich vielleicht die Ernten der anderen mal ansehen?", fragte Mel und verabschiedete sich einige Minuten später vom Tisch, nachdem Cecelia ihr erklärt hatte, wie sie die Ernten auf der Leinwand in ihrem Zimmer nachschauen könnte.
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Die 100. Hungerspiele: Täuschende Hoffnung
FanfictionWas wäre, wenn Katniss nie mit Peeta die 74. Spiele gewonnen hätte? Was wäre, wenn es die Hungerspiele immer noch gäbe? Eine mit Gefahren gespickte Arena, tödliche Gegner aus elf Distrikten und nur ein lebender Sieger am Ende: All das steht Mel, ein...