Kapitel 10

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CN: Gedanken an Tod, Waffen


Als Mel am nächsten Morgen wach wurde, hatte sie das Gefühl, länger geschlafen zu haben als sonst. Die leuchtenden Zahlen der Uhr neben dem Bett sagten ihr, dass es schon halb Zehn war.
Maja, die am Tisch im Esszimmer saß, erklärte es ihr.
"Dein Einzeltraining ist erst um zwölf Uhr. Sie haben später angefangen als sonst, schließlich seid ihr nur die Hälfte. Ich dachte, ich lasse dich schlafen, viel gibt es ja sonst nicht zu tun."
"Oh, okay. Danke." Mel ließ sich am Tisch nieder und nahm sich ein Brötchen. In dem Moment betraten Cecelia und Indigo den Raum.
"Ah, du bist wach! Das ist gut.", begrüßte ihre Mentorin sie und Indigo wünschte ihr ebenfalls einen guten Morgen, was Mel überrascht zur Kenntnis nahm.
Cecelia übernahm wieder und fragte Mel danach, was sie vorführen wollte. Mit Wurfpfeilen war sie sehr zufrieden, eine Waffe brachte normalerweise immer mehr Punkte als Überlebenstechniken. Sie waren einfach beliebt beim Kapitol, durch Waffen zu sterben war nicht so passiv wie durch Hunger oder Krankheit.
In den Stunden bis zum Einzeltraining wiederholte Mel noch einmal alles Gelernte über Pflanzen, Knoten und Fallen. Erleichtert stellte sie fest, dass sie sich an mindestens die Hälfte der Heilpflanzen und vieles Essbares aus der Natur erinnern konnte. Dieses Wissen könnte ihr später das Leben retten...

Um Viertel vor zwölf kam Cecelia in ihr Zimmer und sagte ihr Bescheid, dass sie runtergehen könne. Auf dem Weg zum Aufzug erklärte sie ein letztes Mal: "Versuch, möglichst stark zu wirken. Um es auf die versteckte Art zu probieren hast du zu wenig Gegner. Das wird dieses Jahr ein Kampf der Stärksten, alles, was du jetzt tun kannst, ist möglichst viel Eindruck zu machen."
"Okay. Ich geb mein Bestes."
Mel stieg mit einem mulmigen Gefühl im Magen in den Aufzug und drückte den Knopf, der sie nach unten brachte. Der kleine Raum vor der Trainingshalle war nun mit zwei Bänken zum Sitzen bestückt und als sie eintrat, war niemand sonst da. Die Tür zur Halle war allerdings verschlossen, also ging sie davon aus, dass sie noch warten sollte und setzte sich hin.
Nervös wippte sie mit ihren Beinen auf und ab. Wie sollte sie es hinkriegen, stark zu wirken? Sie hatte nur zwei Tage lang mit den Wurfpfeilen trainiert und musste nun versuchen, es professionell und selbstbewusst aussehen zu lassen.
Cecelias Worte von eben fielen ihr wieder ein. Sie hatte gesagt, es würde ein Kampf unter den Besten werden. Mel glaubte nicht, dass sie eine der Stärksten war. Wenn sie trotzdem versuchte, nicht zu schwach zu wirken, würde sie dann als Mittelfeld unbeachtet bleiben? Kein ernsthafter Konkurrent und keine leichte Beute?
Es war seltsam, immer nur von elf Gegnern zu sprechen. In ihrem Kopf war die Arena fest mit vierundzwanzig Tributen verbunden. Trotzdem war sie froh, dass es nicht so viele waren wie sonst. Einen kleinen Vorteil hatte sie. Es würde nicht so viele andere geben wie sonst - automatisch wurden die Spiele etwas einfacher. Es war leichter, acht oder neun Tributen zu entkommen als doppelt so vielen. Und noch etwas war anders als sonst: Sie hatten ein großes Bündnis gegen die Karrieros geschlossen, das die Hälfte der Tribute umfasste.
Trotzdem waren die aus Distrikt Eins, Zwei und Vier keine Menschen, die man unterschätzen sollte. Zwar hatten sie wahrscheinlich nicht alle trainiert, oder nicht so lange, weil es ja keine Freiwilligen gab. Aber sie kamen aus den Gegenden, die durch die früher gewonnenen Spiele wohlhabender waren. Sie waren besser ernährt und kräftiger. Außerdem konnten sie auf viele Sieger ihrer Distrikte zurückblicken. Hoffnung war eben doch wichtig...

"Melody Hook"
Eine blecherne Stimme riss sie abrupt aus ihren Gedanken. Viel zu sehr erinnerte es sie an den Tag der Ernte, an dem mit ebendiesen Worten, ihrem Namen, alles anders geworden war.
Mel stand auf und merkte, dass sie weiche Knie hatte.
Ruhig!, befahl sie sich in Gedanken. Sie versuchte, aufrechter zu gehen und den Blick selbstsicher aussehen zu lassen. Ob es funktionierte, war ihr überhaupt nicht klar.
Hinter der Tür wartete ein Mann mit einer Kamera. Er bat sie, sich kurz vor eine Wand zu stellen und machte ein Foto von ihr.
"Wozu ist das?", fragte sie verwirrt.
"Für die Ergebnisse des Einzeltrainings. Es wird mit der Zahl eingeblendet."
Stimmt, sie erinnerte sich an die Bewertungen der Tribute und nun fiel ihr auch wieder ein, dass dabei ein Portrait gezeigt wurde. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wann die Kapitolleute das Bild aufnahmen.
Der Mann entließ Mel mit einem Kopfnicken, nachdem er das Foto begutachtet hatte, und sie schaute sich kurz suchend um. Alles stand am selben Ort wie beim Training, gut einsehbar für die Spielemacher oben auf der Tribüne.
Unsicher ging sie in den Raum hinein, sollte sie sich kurz bemerkbar machen? Sich vorstellen, verbeugen?
Ach, verdammt!
Warum hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht? Sie hoffte, man sah ihr die Zweifel nicht an, holte sich ein paar Messer und Pfeile von ihrer Station und sah zu den Spielemachern. Die meisten sahen zu ihr, ein paar andere aßen oder tranken etwas. Mel beugte sich leicht in ihre Richtung. Hoffentlich konnten sie nicht sehen, wie unsicher und wacklig sie sich gerade fühlte...

Das erste Messer ging daneben und fiel zu Boden. Das scheppernde Geräusch schien unnatürlich laut zu sein und es war unangenehm still ohne die anderen Tribute in der Halle.
Das zweite Messer blieb stecken, allerdings deutlich außerhalb von den Zielkreisen.
Mel spürte, wie Tränen in ihre Augen stiegen und blinzelte hastig. Nicht weinen! Nicht jetzt!
Wie durch ein Wunder funktionierte es und ihre Tränen blieben aus. Verzweifelt wandte sie sich wieder der Zielscheibe zu. Es musste klappen! Das hier war so wichtig, für ihre Sponsoren, für ihr gesamtes Erscheinungsbild bei den anderen.
Sie holte tief Luft und rief sich noch einmal Coles Erklärung ins Gedächtnis. Dann korrigierte sie ihren Stand, hob den Pfeil und warf.

Dieses Mal traf sie und augenblicklich fühlte ihr Herz sich leichter an. Dennoch - das reichte noch lange nicht. Einer von drei Würfen war nicht gut.
Entschlossen drehte sie sich um, um neue Waffen zu holen. Ein Diener hatte die fehlenden bereits ersetzt und so hatte sie wieder die komplette Auswahl. Sie versuchte es mit etwas weniger schweren Messern und schaffte diesmal drei von fünf Würfen.
Ihre Hände wurden ruhiger.
Sie warf noch zehn weitere Pfeile, dann erhob eine der Frauen oben auf der Plattform ihre Stimme.
"Deine Zeit ist um. Du darfst gehen."
Mel nickte und drehte sich von der Zielscheibe weg. So aufrecht und stolz wie möglich lief sie aus dem Raum. Kaum war sie am Fahrstuhl angelangt, sackten ihre Schultern nach unten. Ihre angespannten Muskeln wurden wieder lockerer, während sie in den achten Stock fuhr.
Oben wurde sie gleich von Cecelia, Indigo und Maja empfangen. Ihre Betreuerin fing an, sie mit Fragen zu löchern, bevor Cecelia "Schh! Sie wird uns schon erzählen, wie es gelaufen ist!" sagte und Mel erst einmal ins Wohnzimmer brachte.
Erwartungsvoll blickten die drei sie an.
"Es war okay, schätze ich?" Ihre Antwort klang eher wie eine Frage, das war ihr bewusst. So selbstbewusst sie sich auch gegeben hatte während des Trainings, in Echt sah es ganz anders aus.
"Hast du die Wurfpfeile benutzt? Wie oft hast du getroffen?", wollte Indigo wissen. Etwas erstaunt blickte Mel auf. Dass ihr Mentor mit ihr sprach, kam selten vor, eigentlich so gut wie gar nicht. Er schien fast nie gedanklich da zu sein. Heute musste ein guter Tag für ihn sein.
"Ja, hab ich.", antwortete sie ihm. "Und getroffen hab ich mit der Hälfte. Allerdings auch nicht immer weit innen in der Scheibe..."
Cecelia seufzte. "Das wird schon. Die Hälfte ist nicht so schlecht. Potential ist da, das müssen die Spielemacher nur erkennen und dann bewerten sie dich schon gut."
Ein wenig geknickt nickte Mel. Klar, die Vorführung hätte besser laufen können, aber es war nicht schlecht gewesen. Sie selbst war stolz auf das, was sie gemacht hatte, und verstand nicht, warum Cecelia und Indigo so abweisend reagiert hatten.
Plötzlich verspürte sie das Bedürfnis, mit Edda darüber zu reden. War sie wieder auf dem Dach?
Sie entschuldigte sich und meinte, sie würde frische Luft schnappen gehen. Die Ausstrahlung der Ergebnisse war erst um achtzehn Uhr, bis dahin blieb viel Zeit.

Im Dachgarten war niemand.
Enttäuscht und traurig setzte Mel sich auf eine der Holzbänke und betrachtete die Pflanzen um sich herum. Sie wollte gern mit Edda reden, sich bei ihr anlehnen und sich trösten lassen. Aber wenn sie nicht zufällig aufeinandertrafen, konnten sie sich nicht besuchen. Sie glaubte nicht, dass es erlaubt war, in die Etagen der anderen Distrikte zu fahren und Cecelia konnte sie auch nicht um eine Kontaktaufnahme bitten. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass ihre Mentorin es nicht gutheißen würde, dass sie so nah mit Edda war. Fast schon wie Freunde.
Sie seufzte. Es war unglaublich schwer, sie so gern zu haben und zu wissen, dass sie beide bald in die Arena mussten. Bei dem Gedanken an neulich Nacht musste sie schlucken.
Würde sie es schaffen, Edda zu töten, um nach Hause zu kommen? Sie schob ihre Überlegungen möglichst weit weg in ihr Unterbewusstsein.

Eine Weile verging und sie dachte an Distrikt Acht. Ihre gewohnten Näharbeiten, ihr Haus mit ihrer Mutter und Clay. Sie lächelte. Die Pflanzen hier würden ihm gefallen. Er liebte es, sie zu pflegen und zu stutzen und je seltsamer sie aussahen, desto begeisterter schien er. Die Natur in Formen und Farben zu bringen war sein größtes Hobby.
All das schien so weit zurückzuliegen. Es war nicht einmal eine Woche her, dass sie fort war und trotzdem dachte sie nicht mehr die ganze Zeit an ihre Heimat. Ihre Mutter und ihre Freunde schienen nicht mehr da zu sein, ihre Gefühle waren wie unter einer Schicht Staub oder Eis. Warum weinte sie nicht mehr bei dem Gedanken an ihre Eltern, sondern nur wegen der bevorstehenden Arena?
War sie schon so weit weg, so abgestumpft?
Nein, dachte sie, das lasse ich nicht zu. Lieber wollte sie leiden mit dem Gedanken an Distrikt Acht als ihr Leben vor dem Kapitol zu vergessen.
Sie fühlte sich gleichzeitig stark und traurig. War es das, worauf es hinauslief? Dass sie ihre Heimat entweder bei sich behielt und ständig ihre Mutter und Clay vor Augen hatte oder dass sie sie verdrängte und sich auf ihr reines Überleben konzentrierte?
Verzweifelt kauerte sie sich auf der Bank zusammen, während ihre Augen sich schließlich doch mit Tränen füllten. Sie fing an, verzweifelt zu weinen und ihr Herz schien unter der Entscheidung zu zerspringen.
Wie sollte man zwischen so etwas wählen? 

Die 100. Hungerspiele: Täuschende HoffnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt