Kapitel 19

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CN: Gedanken an Tod und Tötung, Verletzung, Hunger und Durst, Hunde


"Gerade hatte Lenox Yorick zu Boden gebracht, als..." Mels Stimme stockte. "als Edric..."
"Schhh, ist okay, Mel" Beruhigend streichelte Edda ihre Schulter und drückte sie sanft an sich. Die letzten Minuten hatte sie damit verbracht, Mel zuzuhören, die von den Geschehnissen erzählte und dabei immer wieder ins Stocken geriet, weil die Bilder der Nacht in ihrem Kopf zu grausam wurden.
"Edric hat Lenox getötet", brachte diese schließlich mit leiser, brüchiger Stimme hervor. "Er hat ihn getötet."
"Also ist Edric ein... Verräter?", fragte Edda zögerlich. "Ich meine, er hat uns verfolgt, aber... mehr habe ich ja nicht mitbekommen."
Mel nickte. Ein dicker Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet und ihr Herz fühlte sich an, als würde es gleich zerspringen, so heftig pochte es in ihrer Brust.
Die ganze Zeit hatten sie beide Lenox verdächtigt, ihn im Auge behalten und waren vom Schlimmsten ausgegangen - was dann auch eingetreten war. Nur, dass sie sich geirrt und Edric blind vertraut hatten, obwohl dieser anscheinend die ganze Zeit über gemeinsame Sache mit den Karrieros gemacht hatte.
Ich habe ihm vertraut.
Erst jetzt bemerkte Mel, dass ihre Hände sich um das Stoffrotkehlchen krampften. Sie konnte sich nicht daran erinnern, es aus ihrer Jackentasche geholt zu haben, aber sein Anblick war tröstlich, sprach von Ruhe und Geborgenheit und ließ ihr Herz allmählich wieder langsamer schlagen.
Ein paar Minuten lang saßen die beiden Mädchen schweigend auf den feuchten Blättern des Waldbodens nebeneinander, bis Edda die Stille durchbrach: "Ich glaube, wir sollten weitergehen. Also, weg von der Lichtung, irgendwohin, wo Edric auch noch nicht war. Er ist bestimmt noch in der Nähe, und ich will ihm echt nicht begegnen."
Mel stimmte ihr zu. Wenn sie in ein neues Gebiet gingen, wäre die Chance auf ihn zu treffen ziemlich niedrig, fand sie. Immerhin kannte er sich dort dann ja auch nicht aus und konnte sie nicht an irgendwelchen Orten überraschen, oder, schlimmer noch, in eine Falle locken. Sicher würde er erst einmal mit Storm auf der Lichtung bleiben.

Kurz nach ihrem Entschluss brachen sie auf.
"Ich glaube, wir sind südlich von der Lichtung. Zumindest sind wir gestern da lang gerannt, also würde ich vorschlagen, wir bleiben auf diesem Kurs. So kommen wir weit weg von unseren bisherigen Aufenthaltsorten.", erklärte Edda ihren Plan. Wieder konnte Mel nur zustimmen, das erschien alles logisch. "Dann los"
In der Nacht hatte sie nicht auf ihre Umgebung geachtet, dafür stellte sie nun fest, dass der Wald deutlich dichter war als im Norden und mehr Gestrüpp und Unterholz besaß. Weiter in Richtung Süden erhoben sich große Berge, die nach oben hin immer kahler und grauer wurden.
Es war schwierig, voranzukommen und mit der allmählich steigenden Sonne wurde die Luft immer wärmer. Nach ungefähr drei Stunden Fußmarsch war Mel schweißgebadet, obwohl sie ihre Jacke ausgezogen hatte, außer Atem und ihre Seite fing an, wehzutun. Zudem war ihre Flasche seit einer ganzen Weile leer.
"Edda, ich brauch eine Pause. Und wir müssen irgendwo unser Wasser auffüllen, ich hab keins mehr."
"Okay, setz dich ruhig hin. Ich guck mal, ob hier in der Nähe ein Bach oder so ist."
Erleichtert ließ Mel sich neben einen Baumstamm aufs Moos fallen, während Edda schon wieder im Dickicht verschwand. Mit vorsichtigen, langsamen Bewegungen zog sie erst den Rucksack von den Schultern, bevor sie das T-Shirt hochschob. Die dunklen Blutergüsse sahen nicht weniger erschreckend aus als am Morgen, noch dazu fühlte es sich an, als würde jeder Herzschlag ihre Rippen zum Pochen bringen. Mit zusammengebissenen Zähnen zog Mel das Oberteil wieder zurecht und lehnte sich erschöpft zurück. Ihre Beine zitterten ein wenig, nun, da sie saß, und ihr wurde klar, dass der Kampf und die Flucht sie mehr erschöpft hatten, als sie zunächst gedacht hatte. Immerhin schien es Edda gut zu gehen.
Sie schloss die Augen und versuchte, tief und ruhig zu atmen, als plötzlich ein knackender Zweig sie aufschrecken ließ. Hastig sah sie sich um, stand auf und ließ den Blick durch die Umgebung schweifen, sah allerdings nichts. Mit klopfendem Herzen sank sie wieder zu Boden. Wie nervös sie schon den ganzen Tag gewesen war, wurde ihr erst jetzt bewusst: Ständig hatte sie sich umgedreht und jetzt zuckte sie bei jedem fremden Geräusch zusammen.
Das war sicher nur ein Tier. Ich bin einfach nur ängstlich.
Um sich abzulenken, ging Mel wieder die Pflanzen durch, die sie im Trainingscenter gelernt hatte.
Haselnüsse, Äpfel, Birnen, Blaubeeren, Brombeeren und Himbeeren erkenne ich. Minze auch. Und Zitronenmelisse sieht aus wie Brennnesseln, beides kann man essen. Brennnesseln enthalten Eisen. Efeu kann man als Brei in Tee trinken, hilft gegen Wunden. Und Arnika hilft gegen Prellungen...
Irgendetwas fiel ihr auf.
Prellungen! Vielleicht half diese Pflanze auch ihrer Verletzung an den Rippen... Wie hatte sie noch gleich ausgesehen? Mel runzelte die Stirn, stützte die Ellbogen auf die Knie und schloss die Augen. Arnika, Arnika... Gelbe Blüten! Und hatte der Trainer an der Pflanzenstation nicht etwas von einem intensiven Duft gesagt?
"Hey, alles okay?"
Mel stieß einen spitzen Schrei aus. "Boah, hast du mich erschreckt!"
"Entschuldigung", erwiderte Edda lachend, bevor ihr Gesichtsausdruck bekümmert wurde. "Ich habe leider kein Wasser gefunden. Sieht so aus, als müssten wir erst mal mit meinem Rest klarkommen."
"Oh. Na ja, es wird schon klappen.", versuchte Mel, sie und sich selbst aufzumuntern. "Übrigens ist mir eingefallen, dass Arnika gegen Prellungen hilft. Weißt du, wie die aussieht?"
"Hm... Ich glaube, die hat unten behaarte Blätter und gelbe Blüten, mehr weiß ich aber auch nicht mehr."
"An die Blüten konnte ich mich auch erinnern, über die Blättern weiß ich nichts. Aber zusammen könnten wir sie erkennen, oder?"
"Ich glaube, ja.", meinte Edda. "Allerdings nur, wenn wir auch in ihre Nähe kommen, also..."
"Ich weiß schon, also müssen wir weitergehen.", seufzte Mel gespielt auf. "Dann schleppe ich mich halt weiter." Sie hinkte, so stark es ging, drehte sich dann um und rief der lachenden Edda nun selbst schmunzelnd zu: "Wo bleibst du denn? Schnell!"

Die 100. Hungerspiele: Täuschende HoffnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt