Kapitel 23

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CN: Gedanken an Tod und töten, Waffen, Naturkatastrophe, Tötung, Blut


Edda zitterte. Seit sie Mel alleingelassen hatte, damit sie abgeholt werden konnte, saß sie an einen großen Felsen gelehnt da und wartete auf den Morgen. An Schlaf war nicht zu denken: die Trauer hatte sie wachgehalten, sie musste nach Storm und Edric Ausschau halten und die kalte Nachtluft tat ihr Übriges, um sie nicht doch wegsacken zu lassen. Nun färbte sich der Himmel am Horizont langsam dunkelblau, ging dann in ein helles Gelb über und wurde schließlich zu einem strahlend blauen Zelt, dass sich über die Berge spannte. Es standen kaum Wolken am Himmel, sodass Edda sich an der Sonne wärmen konnte, die langsam über die Gipfel stieg.
Nur noch Storm und Edric waren außer ihr übrig. Wenn es nicht heute zu Ende ging, dann spätestens Morgen. Doch sie rechnete eher mit heute, die Leute im Kapitol brachten die Spiele in den letzten Jahren gern schnell zu einem Finale. Das war schon Trend, seit Katniss und Peeta damals versucht hatten, gemeinsam die Arena zu gewinnen. Ausgefallene Endszenen waren nicht mehr sehr beliebt.
Doch wie sie auf die beiden Gegner treffen sollte, war ihr unklar. Sie mussten sich noch in der Gegend befinden, höchstens einen halben Tagesmarsch entfernt, doch meistens wurden die letzten Tribute absichtlich und gesteuert zusammengetrieben. Das Muster war eindeutig in den meisten Spielen zu erkennen gewesen, die Edda sich in ihrem Leben hatte ansehen müssen. Und als sie dann gezogen worden war, hatte sie sich mit ihrem Mentor Beetee noch intensiver mit den Taktiken und Spielzügen der Veranstalter beschäftigt. Jetzt fehlte nur noch, dass tatsächlich etwas passierte.
Ich werde es rechtzeitig bemerken, sagte Edda sich, lieber nutze ich die Zeit bis zum Finale zum Ausruhen.
Ein Klingeln riss sie aus ihren Überlegungen. Verwirrt und erschrocken blickte sie sich nach der Quelle des Geräuschs um und entdeckte bald darauf einen Fallschirm über sich, der vom Himmel aus zu ihr heruntersegelte und schließlich zu ihren Füßen landete. Das muss von einem Sponsoren kommen!
Eilig löste Edda die Kapsel vom Trageschirm und zog die Hälften auseinander. Ihr fielen eine silberne Flasche und eine Dose aus Metall entgegen. Als sie die Flasche aufhob, plätscherte es verheißungsvoll, und nach einem Blick in das andere Behältnis lachte Edda vor Erleichterung leise auf. Die Sponsoren hatten ihr ein kleines Festmahl gegönnt, das nach den langen Stunden ohne Nahrung gerade richtig kam. Anscheinend glaubten einige der reichen Kapitolleute an ihren Sieg, sonst würden sie ihr nun nicht so viel spenden.
Mit einem dankbaren Lächeln zum Himmel begann Edda ihre Mahlzeit, bestehend aus Wasser und Brot, einem Apfel, einem Stück gebratenem Fleisch und einer Frucht, die sie nicht kannte. Sie ließ sich Zeit und versuchte, nicht alles zu schlingen, damit es möglichst lange hielt und sie keine Bauchschmerzen bekam. Nachdem sie sich den Saft des Obststückes von den Lippen geleckt hatte und das Wasser gelehrt hatte, lehnte sie sich mit einem Seufzen zurück an den Felsen. Zum ersten Mal seit Tagen war sie wirklich satt und sehnte sich nicht nach einer Mahlzeit. Dass sie nun eine große Stärkung erhalten hatte, bestärkte sie in ihrer Vermutung, dass die Spiele bald zu Ende gingen.


Ein Knirschen in der Ferne riss sie aus ihren Gedanken, denen sie einige Stunden im Sonnenschein nachgehangen hatte. Die Erinnerungen an Mel und die anderen Tribute verschwanden im Hintergrund, während sie eilig aufstand und die Umgebung beobachtete.
Verdammt, in den Bergen lassen sich Geräusche einfach nicht orten.
Es vergingen angespannte Sekunden, dann ertönte erneut ein dumpfes Grollen. Und dann entdeckte Edda die Quelle des Geräuschs: Oben am Berghang, unweit des Gipfels, erhob sich eine Staubwolke.
Ein Steinschlag!
Sie musste hier weg, sofort. Die ersten herabrollenden Steine waren etwa zweihundert Meter entfernt zu erkennen, und sie befand sich ziemlich genau in der Bahn, die sie hinunterdonnern würden. Panisch blickte Edda sich um – nach unten vor rollenden Felsbrocken zu fliehen hatte keinen Sinn. Also nach links oder rechts den Berghang entlang. Von links kam sie, und da war auch der große Spalt im Boden, den sie würde umgehen müssen. Ein Hindernis, das auf einer rasanten Flucht nicht hilfreich war. Also nach rechts.
Dort, wo Mel herkam.
Ohne weiter nachzudenken, rannte Edda los. Zum Glück hatte sich ihr Körper in den letzten Stunden doch noch etwas ausruhen können, sodass sie nun schnell vorankam. Ein Blick nach oben an den Berghang zeigte ihr, dass die Steine schneller herabrutschten, als sie gedacht hatte. Die Staubwolke bewegte sich immer weiter herunter und schon ließen sich einzelne große Felsbrocken erkennen, die am Berg abprallten und mehrere Meter weit sprangen.
Der Sprint verlangte Edda alles ab – Aufmerksamkeit, um nicht über die kleinen Unebenheiten im Fels zu stolpern, Stärke und Ausdauer. Schnell ging ihr Atem in heftigen Stoßzügen, ihre Beine brannten und sie wollte stehen bleiben, um ein wenig Kraft schöpfen zu können. Doch die Angst, die sich angesichts der nahenden Katastrophe immer weiter steigerte, trieb sie trotz der Schmerzen und ihrer Erschöpfung voran.
Sie rannte erst wenige Minuten, als sie sich zu dem Steinschlag umdrehte und dabei schräg hinter sich Storm erkannte. Die Karriero rannte ebenso wie sie vor den stürzenden Felsen davon, war nur einige Meter höher als sie am Berghang und schätzungsweise noch fünfzig Meter von ihr entfernt. Keine lange Strecke für eine durchtrainierte Kämpferin wie sie.
Noch einmal beschleunigte Edda ihre Schritte, merkte aber, wie ihr die Kraft ausging, um das Tempo halten zu können. Keuchend schleppte sie sich weiter, wechselte zwischen Sprint und Joggen. Wiederholte Blicke über die Schulter zeigten ihr zwei Dinge: Storm holte langsam, aber sicher auf. Und die stürzenden Felsen hatten sich durch die Sprünge am Berg immer weiter aufgefächert, sodass sie die frühere Gefahrenzone längst verlassen hatte, aber immer noch Steine auf sie herabzuschlittern drohten.
Irgendwohin wollen die Spielemacher uns doch treiben, dachte Edda. Ich muss nur wissen, wohin. Irgendein geeigneter Ort für einen Kampf.
Sie konzentrierte sich auf den Blick nach vorn. Am Ende der schrägen Fläche, auf der sie gerade rannte, befand sich ein Stück gerader Fels, umrahmt von riesigen Steinen. Es würde noch etwa eine Minute dauern, bis sie dort war, schätze Edda ab, während sie immer weiter rannte.
Das muss es sein, viel weiter können sie uns nicht treiben.
Hinter sich hörte Edda Schritte. Storm hatte sie fast eingeholt und zog im Laufen ein Schwert, dass sie in einer Scheide am Gürtel befestigt hatte, während hinter ihnen immer näher die Steine herabdonnerten.
Wieder zwang Edda ihre Muskeln dazu, schneller auszutreten. Keuchend warf sie im Sekundentakt Blicke nach hinten und sah, dass Storm ihr Tempo nicht erhöhte. So oder so, wenn Edda auf der Steinfläche ankam und vor der großen Steinumrahmung stehen bleiben musste, würde Storm sie erwischen. Dafür musste sie nicht noch ihre Kraftreserve opfern.
In dem Moment, in dem Edda ihr Ziel erreichte, hörte sie hinter sich einen Schrei. Während sie kraftlos noch einige Schritte weiterstolperte, drehte sie sich um.
Storm war in den Steinhagel geraten. Da sie langsamer gelaufen war als Edda, hatten die ersten Steine sie erreicht und ihr einen erschrockenen Ruf entlockt. Eigentlich war Edda sicher, dass die Tributin aus Vier es das letzte Dutzend Meter bis zu ihr schaffen würde und wappnete sich bereits für den aussichtslosen Kampf, als das Unglaubliche geschah: Ein vorspringender Felsbrocken, groß wie ein Kopf, traf Storm am rechten Bein. Mit einem Schmerzensschrei knickte diese ein und umfasste die verletzte Stelle mit den Händen. Im nächsten Augenblick wurde ihr dieser Fehler bewusst. Mit einem panischen Blick schaute sie nach oben den Hang hinauf und konnte gerade noch die Massen erkennen, die heranwälzten.
Edda hörte nur noch einen kurzen, grauenerfüllten Schmerzensschrei, bis die Felsen wie von starken Kräften gelenkt in die Lücke in der Steinumrandung der Ebene rutschten und sie in einem großen Kreis einschlossen. Die Brocken ringsherum waren einige Meter hoch und sahen scharfkantig und gleichzeitig sehr glatt aus. Hinauszuklettern schien unmöglich: Es gab kein Entkommen.

Ihre keuchenden Atemzüge schmerzten in der Brust, ihre Beine zitterten und drohten, unter ihr nachzugeben. Doch als Edda hinter sich ein Geräusch hörte, drehte sie sich um.
An der gegenüberliegenden Seite des Steinkreises stand Edric, groß und stämmig, lässig hatte er die Jacke hinter sich über einen Stein geworfen. Angst fuhr Edda durch die Brust, füllte den ganzen Körper aus. Das ist das Finale, das ist der Kampf. Ich gegen eine Killermaschine.
Edric wirbelte sein Schwert durch die Luft und stieß einen Pfiff aus. Dann stürmte er los.

Bevor er die Meter zwischen sich und Edda überbrückt hatte, zog sie ihr langes Messer aus dem Gürtel und packte es mit festem Griff. Angesichts seiner Muskeln und der langen Klinge in seiner rechten Hand fühlte sie sich unrettbar unterlegen. Das Finale war selten ein gerechter Kampf, wenn nicht zwei Karrieros übriggeblieben waren.
Als Edric sie erreichte, wandte sie sich blitzschnell nach rechts, sprang an seinem Schwert vorbei und rannte einige Meter weiter weg. Der Karriero blieb stehen, drehte sich zu ihr um und lachte.
Ein Gefühl tiefer Hoffnungslosigkeit erfüllte sie. Es war klar, wer hier der Überlegene war, und sie konnte nicht ewig fliehen. Früher oder später musste sie Edric im direkten Kampf begegnen, und dabei würde er kaum den Kürzeren ziehen.
Edda atmete einmal tief ein, das Bild ihrer Eltern blitzte an ihr vorbei. Dann gingen sie und ihr Gegner wieder aufeinander los.
Kaum, dass sie ihn erreicht hatte, fegte er ihr mit einem kraftvollen Schwung das Messer aus der Hand. Sie hatte keine Zeit, sich danach zu bücken, als er auch schon ausholte und ihr das Schwert in die Seite hieb. Schmerz durchfuhr Edda so heftig, dass sie augenblicklich zu Boden ging. Panisch griff sie an ihre linken Rippen und keuchte auf, als der Druck ihrer Hände einen grausamen Stich durch ihren Oberkörper jagte. Heißes Blut sickerte durch ihre Finger und nun kam auch noch ein Reißen im Oberschenkel dazu, dass sie nicht zuordnen konnte. Während Edric ihr Messer mit dem Fuß wegstieß und sich über sie beugte, blickte Edda an sich herunter. Und da erkannte sie den Auslöser für den unbekannten Schmerz an ihrem Bein: Mels kleines Messer, dass sie eingesteckt hatte, schnitt ihr in die Haut.
Sie überlegte keinen Sekundenbruchteil, sondern löste mit einer neuen Schmerzwelle ihre Hände von der Wunde, packte die kaum handlange Klinge und hieb sie Edric in den Bauch. Mit einem überraschten Laut sackte der Junge über ihr zusammen, während Edda wieder und wieder zustieß.


Es dauerte nur wenige Sekunden, doch die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Als Edda schließlich das Messer aus dem Hals des Jungen zog und sich unter seinem Körper hervorwand, der schwer auf ihr lag, ertönte ein Kanonenschuss. Der letzte Schuss in diesem Jahr.
Edda blickte an sich herunter, ließ das Messer fallen und presste die Hände wieder auf die Wunde an ihrer Seite. Der Schmerz, den das Adrenalin während ihrem Todeskampf kurzzeitig ausgelöscht hatte, kam mit einer solchen Wucht zurück, dass sie sich zusammenkrümmte und laut aufstöhnte. Glitschiges Blut lief ihre Hände herunter, doch sie konnte nicht sagen, ob es ihres war oder Edrics.


Das Surren des Hovercrafts erklang über ihr. Taumelnd stand Edda auf, bei jedem Schritt hinterließ sie eine Spur aus dicken Blutstropfen auf dem grauen Felsboden. Sie warf einen letzten Blick auf die Arena und Edric. Mit blutverschmiertem Hals und Bauch lag er zusammengebrochen auf dem Boden.

Mel hatte es bei ihrem Plan in der Arena nicht geschafft, Davina zu töten, und auch Storm hatte sie überwältigt. Dieses Zögern war ihr zum Verhängnis geworden. Edda würgte und wandte sich von der Leiche ab, dachte mit purer Angst an ihre Rückkehr nach Hause. Sie hatte sich so sehr verändert, dass sie nicht wusste, wie sie jemals in ihr altes Leben hineinfinden sollte, in dem sie schwärmend den älteren auszubildenden Mädchen hinterhergeschaut und sich sonst nur für Technik interessiert hatte. Sie hatte Edric umgebracht, und nur weil die anderen zehn Tribute ihr Leben gelassen hatten, lebte sie weiter.
Mel hatte es nicht geschafft, das Zögern vor dem Töten zu überwinden. Das Kapitol hatte Edda dieses menschliche Zögern genommen.

Die 100. Hungerspiele: Täuschende HoffnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt