45 | Silvester (2) + Ende

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| Emma |

Der Abend hätte kaum schöner sein können.
Im letzten Jahr hatte ich gelernt, wie schnell sich unangehme Situationen auflösen können, wenn man sie nur offen anspricht. Zuvor hatte ich mich immer in grausamen Gedankenspielen aufgehalten und jegliche Konfrontation vermieden. Doch kaum hatte ich die Sache mit Eric akzeptiert und losgelassen, konnte ich mich entspannen und mich voll und ganz auf Harry konzentrieren.

Wir hatten bereits fertig gegessen, als Harry zu einem melancholischen Jahrerückblick ansetzten.
„Bei aller Liebe für James. Ich bin doch mehr als froh, dieses Silvester mit dir hier zu verbringen", sprach er und erhob feierlich sein Weinglas.

Lächelnd sah ich ihn an. „Das kann ich nur zurückgeben. Ich kann kaum glauben, dass es erst ein Jahr her ist, dass du hier mit ihm gesessen hast. Es fühlt sich so weit weg an. Es kommt mir vor, als wäre ich ein ganz anderer Mensch."

„Du hast ja auch eine Menge hinter dir", hakte Harry verständnisvoll ein.
Als mir in diesem Moment ein kurzer, negativer Gedanke kam, wollte ich ihn instinktiv wegschieben, um den Moment nicht kaputt zu machen. Doch so wollte ich nicht mehr sein.
Stattdessen nahm ich mich also zusammen und sprach meine Bedenken aus.
„Manchmal habe ich das Gefühl, wir beide stecken in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis fest", bemerkte ich offen. „Nicht, weil du mich bevormunden würdest, aber irgendwie... Als müsste ich ständig von dir lernen."

Überrascht zog Harry die Augenbrauen nach oben. „Echt? So nimmst du uns wahr?"
Er war so erstaunt, dass ich selbst noch einmal nachdenken musste. Aber wieder kam ich zu demselben Ergebnis. „Ja, irgendwie schon. Du hast mir gezeigt, was ich wirklich vom Leben will, dass ich auf dem völlig falschen Weg war, dass ich meiner Kreativität eine Chance geben sollte, dass ich mich meinen Gefühlen stellen muss, dass ich verzeihen muss, dass — um Gottes Willen, das war bisher ja wirklich schon eine Menge."

Amüsiert lachte Harry auf. „Auf die Gefahr hin, dass ich dir hier direkt die nächste Lehrstunde halte, aber: Es lernt nie nur einer. Anders gesagt: Glaub mir, dass ich von dir mindestens genauso viel lernen konnte, wie du von mir."

Dieses Mal lachte ich kurz auf und schwenkte mein Glas hin und her. „Na klar, was denn? Wie man am geschicktesten vor allem davonläuft?"

Ich spürte, dass Harry meinen Blick suchte, als er lächelnd den Kopf schüttelte.
„Du bist zielstrebig, fleißig und zugegebenermaßen ziemlich stur. Alles in allem hast du mich schwer beeindruckt, aber vor allem bist du unglaublich mutig, was mich unheimlich inspiriert hat. Du hast mir gezeigt, dass ich manipulativ bin, weil ich immer fürchte, dass man mich nie um meiner selbst Willen liebt. Und dass ich mich selbst immer viel zu sehr unter Druck setze."
„Na schön, aber das —"

Doch ehe ich einhaken konnte, unterbrach Harry mich.
„Die Liste ist noch nicht zu Ende, das Wichtigste fehlt noch. Vielleicht klingt es für dich etwas zu kitischig, aber es ist wahr: Du hast mir beigebracht, wie man bedingungslos liebt. Ich habe dieses Gefühl immer an Bedingungen geknüpft und dachte immer, dass es nun mal so funktioniert — Geben und Nehmen. Aber als du nicht mehr mit mir gesprochen hast, nachdem ich so viel Mist gebaut habe, war ich mir für eine Weile sicher, dass ich dich verloren habe. Und mir klar, dass das nichts an meinen Gefühlen ändern wird. Für gewöhnlich hätte ich mich aus Trotz auch zurückgezogen und dich vergessen wollen, wenn ich von dir ohnehin keine Zuneigung zu erwarten habe. Aber ich wusste, dass ich dich liebe, selbst wenn ich von dir nur noch Verachtung bekommen würde."

Harrys Worte waren wohl die schönste Liebeserklärung, die ich je gehört hatte. Und das ganz ohne bedeutungsschwer diese drei magischen Worte zu hauchen.
Es gab nichts, was ich darauf hätte antworten können, um dem gerecht zu werden, was er als Reaktion verdient hatte. Also lehnte ich mich bloß über den Tisch und küsste ihn mit all meiner Liebe für ihn.

Big Tip || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt