02 | Tisch 5

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| Emma |

Die U-Bahn war heute voller denn je. Ihren Outfits zufolge fuhren die meisten der jungen Leute auf diverse Parties, um sich dort mit Freunden und sicherlich reichlich Alkohol vom Jahr 2019 zu verabschieden.

Das ältere, seriöser gekleidete Paar, das mir gegenüberstand, wollte seinen Abend bestimmt in einem Restaurant verbringen. Vermutlich freuten sie sich auf ein gemütliches Silvester mit befreundeten Paaren. Im Maélys würden sie jedoch wohl kaum das neue Jahr feiern. Die Gäste, mit denen ich heute wieder zu tun haben sollte, hatten sicherlich schon lange keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr von innen gesehen.

Dieses Mal traf ich noch nicht einmal jemanden vom Küchenpersonal im Hinterhof vor dem Personaleingang. Heute wagte es wohl niemand, eine kleine Raucherpause einzulegen. Hinter den Kulissen herrschte größere Hektik als ohnehin schon üblich, doch in den Gästeraum sollte davon nicht das Geringste getragen werden.
Dort saßen die wohlbetuchten Gruppen an ihren runden Tischen beieinander und lachten, während sie beiläufig ihr sündhaft teueres Essen genossen.

„Emma, Tisch 4 und 5", ließ mich George vor Schichtbeginn sichtlich gestresst wissen. Es waren gerade mal zwei Tische, für die ich heute zuständig sein sollte, doch dafür vermutlich etwas größere Gesellschaften.

Damit hätte ich eigentlich alle Infos , die ich brauche, gehabt, doch George blieb dicht neben mit stehen.

„Insbesondere Tisch 5, Emma", raunte er eindringlich. „Es ist der kleinere deiner Tische, dafür aber auch der Wichtigste. Da sitzen einige bekannte Namen beieinander, die anschließend rüber ins Clubhaus gehen werden. Die wollen wir hier gerne wiedersehen, also sollten sie ausgesprochen zufrieden sein."

Verstehend nickte ich und gab innerlich ein leidendes Seufzen von mir. Das letzte Mal, als ich diesen Gesichtsausdruck bei George erlebt hatte, war ein wichtiger Restaurantkritiker in der Gegend gewesen.
Dass ausgerechnet mir der anstrengendste und wichtigste Tisch zugeteilt wurde, war zwar ein Zeichen dafür, dass mir George vertraute, aber die Anspannung, die ich von nun an spüren würde, war es allemal nicht wert. Auf der Stelle verfluchte ich Eric dafür, dass er mir diese Schicht überlassen hatte.

Im Maélys stand die Qualität über der Quantität. Das bedeutete eine überschaubare Anzahl an Speisen auf der Karte, kleine Portionen und wenige Tische, dafür aber umso mehr Privatsphäre für die jeweiligen Gruppen.

Es war gerade mal 6 Uhr abends, als ich mich zum ersten Mal besagtem Tisch 5 näherte.
Die Gäste waren bereits vom Restaurantleiter höchstpersönlich in Empfang genommen, begrüßt und zum Tisch geleitet worden. Nun war es meine Aufgabe, sie bei Laune zu halten und ihnen höflich, am besten unterwürfig, jeden Wunsch zu erfüllen.

Ich lies mir nicht anmerken, wie ich die Gesellschaft zunächst mit meinem Blick scannte. Es waren gerade mal vier Personen, drei davon männlich, was mich wenig überraschte. Der Club nebenan war ein ehemaliger Gentlemen's Club, der inzwischen zwar auch Frauen offenstand, doch in erster Linie kamen dort erfolgreiche Männer zusammen. Die Frauen, die sich dorthin verirrten, waren meist Begleitungen für den Abend.

Mit der Zeit sind sich alle Gesichter der Gäste schrecklich ähnlich geworden und ich machte mir kaum mehr die Mühe, sie mir einzuprägen. Aber heute erkannte ich eines davon auf den ersten Blick. James Corden saß an Tisch 5 und wirkte seriöser als ich ihn aus seiner Talkshow kannte.

Mit ihm am Tisch saß ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters, eine blonde, wunderschöne Frau und ein junger Mann, der nicht viel älter als ich sein musste.

Ich konnte beim besten Willen nicht einschätzen, ob es sich hier um eine freundschaftliche, ausgelassene Runde oder doch um ein stocksteifes geschäftliches Treffen handeln sollte.

Big Tip || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt